Von Nathan Niedermeier
Der geständige Mörder des Kasseler CDU-Politikers Walter Lübcke ist nicht nur ein langjähriger Gewalttäter und Rechtsextremist, er hatte auch persönliche Bekanntschaften im NSU-Umfeld. Zudem gab es auffällige Verbindungen zu Personen rund um den NSU-Mord in Kassel, wie interne Dokumente zeigen
Gegen Mitternacht, am 1. Juni 2019, sackt der frühere Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke in einem Stuhl auf der Terrasse seines Wohnhauses zusammen, getötet durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe. Ermordet hat ihn der langjährige Rechtsextremist Stephan Ernst, das gilt inzwischen als sicher. Wegen psychischer Beihilfe ist zudem der Neonazi Markus H. angeklagt. Ernst behauptet, gemeinsam mit H. gehandelt zu haben und so sehen es auch die Bundesanwaltschaft und die Familie Lübcke. „Ohne H. hätte es den Mord nicht gegeben“ sagte der Anwalt der Familie, Holger Matt, in seinem Schlussplädoyer. Das Gericht wird das Urteil im Fall Lübcke voraussichtlich am 28. Januar fällen.
Stephan Ernst steht auch wegen eines weiteren Tatvorwurfs vor Gericht: Gegen 22 Uhr am 6. Januar 2016 fällt Ahmed I. auf einem Bürgersteig in Kassel zu Boden. Ein Radfahrer hatte ihm von hinten ein Messer vier Zentimeter tief in den Rücken gerammt. Versuchter Mord, so lautet die Anklage gegen Ernst.
Verhandelt werden diese beiden Fälle seit Juni in einem Prozess vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt. Die Bundesanwaltschaft fordert lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung für Stephan Ernst und für Markus H. neun Jahre und acht Monate Haft. In dem Plädoyer hatte die Bundesanwaltschaft Ende Dezember vor dem Oberlandesgericht auch ausgeführt, dass die Ermordung Lübckes in der Tradition des von Rechtsextremisten propagierten „führerlosen Widerstands“ stehe. Auf diesem Prinzip beruhte auch der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU.
Ernst ist deutschen Ermittlungsbehörden schon lange bekannt, aber bisher haben die Sicherheitsbehörden keine besondere Nähe zum NSU festgestellt. Interne Dokumente belegen, dass die persönlichen Verbindungen des Lübcke-Attentäters aus Kassel zu NSU-Netzwerken im nahe gelegenen Thüringen intensiver waren als bisher bekannt. Die Angeklagten wollten sich auf Nachfrage des Autors nicht äußern.
Allein bis zum Jahr 2009 gab es im polizeilichen Informationssystem POLAS 37 Einträge über Stephan Ernst. Der hessische Verfassungsschutz zählt über 60 Rechtsradikale zum Personenkreis um Ernst und seinem mutmaßlichen Helfer Markus H., wie der Autor aus dem Lübcke-Untersuchungsausschuss in Hessen erfuhr. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz war durch Quellenmeldungen über Stephan Ernst informiert. Insgesamt 13 solcher Meldungen mit Bezug zu Ernst lagen dem Amt vor dem Mord an Lübcke vor.
Für Beobachter liegt nahe, dass Ernst in all den Jahren als aktiver Rechtsextremist auch in Kontakt mit dem NSU-Umfeld kommen musste. Die terroristische Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“, kurz NSU, hatte von 2000 bis 2007 aus rassistischen Motiven neun Menschen und eine Polizistin ermordet, Sprengstoffanschläge verübt und Banken ausgeraubt. Unter den Opfern waren Menschen türkischer, kurdischer, griechischer und iranischer Herkunft. Das Kerntrio, Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe hatte in dieser Zeit unterstützt durch ein Helfernetzwerk in Thüringen im Untergrund gelebt.
Dass die rechtsextreme Szene in Kassel gut mit Thüringer Kameraden vernetzt war, als der NSU untertauchte und mordete, ist bekannt. NSU-Untersuchungsausschüsse haben sich mit der Aufarbeitung dieser Verbindungen befasst. So dokumentiert der Abschlussbericht des hessischen Ausschusses gemeinsame rechtsextreme Aufmärsche, Gewalttaten und Feiern mit Saufgelagen. Das in einer Zeit, in der Ernst und auch sein mutmaßlicher Helfer H. in der Kameradschafts-Szene in Kassel aktiv sind, sich darüber auch kennenlernen. In dieser Zeit mordete der NSU aus Thüringen über viele Jahre unerkannt, auch in Kassel.
Wie nah stand Ernst und auch sein mutmaßlicher Helfer dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ und lebt das Terrornetzwerk bis heute weiter?
Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der Linken und ehemalige Obfrau in NSU-Untersuchungsausschüssen, stellt regelmäßig Anfragen an die Bundesregierung zu Straf- und Gewalttaten mit NSU-Bezug. Die Bundestagsabgeordnete kommt zu dem Ergebnis, dass der NSU auch heute noch ein „wichtiger ideologischer Bezugspunkt“ für die extreme Rechte ist. „Man bezieht sich bei konkreten Straftaten und Gewalttaten als Referenz auf den NSU“, sagt sie.
Der hessische Verfassungsschutz hat eine eindeutige Position. Das Amt konnte bisher auch mit einer eigens eingerichteten sogenannten Sonderauswertungsgruppe „keine NSU-Bezüge der Angeklagten“ feststellen, wie der Verfassungsschutz bereits 2019 bekannt gegeben hatte. Dass diese Einschätzung noch heute gilt, bestätigte das Amt jetzt erneut auf Anfrage gegenüber dem Autor.
Die Recherche ergibt jetzt ein anderes Bild.
Dutzende, teils geheime Dokumente und Vernehmungsprotokolle sowie Fotos und Recherchen anderer Medien zeigen in der Zusammenschau: Ernst und auch H. bewegten sich offenbar näher als bisher angenommen im Umfeld der terroristischen Vereinigung.
Das beginnt bei den persönlichen Bekanntschaften von Ernst mit vier Rechtsextremisten, die von der Bundesanwaltschaft als wichtigste Personen in den Ermittlungen zum NSU-Komplex eingestuft wurden. Sie alle stehen auf einer entsprechenden Liste der Bundesanwaltschaft, die neben dem NSU-Kerntrio insgesamt 35 Personen umfasst, darunter die engsten und teils später verurteilten Unterstützer des Trios.
Unter den NSU-Anschlagsorten ist Kassel die einzige Stadt, aus der Personen auf dieser Liste aufgeführt werden. Die Bundestagsabgeordnete Renner schlussfolgert deshalb, dass die Bundesanwaltschaft „möglicherweise ein sehr viel engeres Verhältnis des NSU nach Kassel als in die neonazistischen Szenen in den anderen Tatorten“ vorausgesetzt habe. Neben den vier Bekannten und Freunden von Ernst gibt es zu weiteren Personen auf der Liste Verbindungen über Veranstaltungen, Organisationen und Kontakte.
Der ehemalige V-Mann B. G. mit dem Tarnnamen „Gemüse“ steht auf Platz 11 der Liste zu den NSU-Kontakten. Damit gehört er zu dem Personenkreis, dem die Bundesanwaltschaft eine „besondere Bedeutung“ beimisst. Über die rechtsextreme Kameradschaftsszene in Kassel kennen sich G. und Stephan Ernst persönlich, wie Ernst später vor dem Oberlandesgericht Frankfurt berichtet. Brisant ist der Kontakt zu G. auch, weil dessen V-Mann-Führer A. T. war, ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz und am Tatort bei einem der NSU-Morde anwesend. Ernst habe T. aber nicht gekannt, gab er vor Gericht an.
Dem Spiegel gegenüber teilte ein Anwalt von Ernst jedoch mit, dass in Gesprächen zwischen G. und Ernst auch der Name T. gefallen sei.
Gespräche von G. und Stephan Ernst über den Verfassungsschützer T. sind deshalb so brisant, weil T. und G. später bei dem NSU-Mord in Kassel 2006 noch eine entscheidende Rolle einnehmen werden. Anders als bei den vorherigen Morden des NSU hat die Mordkommission in Kassel schnell einen Tatverdächtigen ermittelt, es ist der Verfassungsschutzmitarbeiter A. T.. Er hielt sich zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort auf, meldete sich aber nicht als Zeuge. Am Tag des Mordes telefonierte er mehrmals mit seinem V-Mann G., den Ernst kannte. Eines der Gespräche dauerte über elf Minuten. Bei Durchsuchungen im Zuge der Ermittlungen gegen ihn werden neben Schusswaffen auch Nazi-Dokumente wie Auszüge aus „Mein-Kampf“ und ein Buch über Serienmörder bei ihm gefunden.
Vor dem zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestages berichtet der damalige Leiter der Ermittlungen zum Kasseler NSU-Mord, dass sie bei den Ermittlungen auch die Hypothese gehabt hätten, dass mit T. ein „verkappter Rechter“ beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz tätig sei.
2007 wird das Verfahren gegen T. eingestellt. Er wechselt ins Regierungspräsidium in Kassel, wo er auch heute noch arbeitet. Es ist die Behörde, dessen oberster Vorsitzender 2009 Walter Lübcke wird. Die Rolle T‘s bei dem Mord in Kassel ist bis heute ungeklärt. Fest steht, Ernst war über den V-Mann „Gemüse“ mit dem Umfeld von T. verbunden.
Der führende Neonazi T. H. ist die Nummer 10 auf der Liste der Bundesanwaltschaft und gehört damit ebenfalls zum Personenkreis mit „besonderer Bedeutung“. Ihm spricht die Zeitung Welt eine „Art Mentor“-Rolle für Stephan Ernst zu und dokumentiert zahlreiche Zusammenkünfte der beiden Neonazis zwischen 2001 und 2011 unter Berufung auf Unterlagen des Verfassungsschutzes. Vor Gericht berichtet Ernst auch wegen einer „Hausverteidigung“ bei H. zuhause gewesen zu sein. Es sei damals darum gegangen, H‘s Anwesen gegen Linke zu verteidigen.
T. H. gilt als entscheidender Führungskader der extremen Rechten in Deutschland. Was wusste er über den NSU und die Morde der Terrorbande, bevor diese öffentlich bekannt wurden? Ein verurteilter NSU-Unterstützer sagte nach seiner Verhaftung 2011 aus, er habe mit H. bei „zwei, drei“ Treffen über eine mögliche Flucht des NSU-Kerntrios ins Ausland gesprochen und H. habe gesagt, er hätte da jemandem, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Auch T. B., ein ehemaliger V-Mann und Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch das NSU-Kerntrio Mitglied war, sprach noch 2007 mit H. über das Trio.
Das geht aus Tonbandaufnahmen hervor, die bei T. H. sichergestellt wurden. Die Aufnahmen lassen den Verdacht aufkommen, dass H. zu diesem Zeitpunkt möglicherweise von den Morden des Trios wusste. H. zweifelt in dem Gespräch jedoch daran, dass die Taten dem Trio zugeordnet werden können. Bis Polizei und Öffentlichkeit erfahren, dass „die drei verschwundenen Jenaer“, über die H. und B. sprechen, für die Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verantwortlich sind, werden noch vier Jahre vergehen, weil fatalerweise genau dieses „zuordnen“, von dem H. spricht, nicht gelang.
Noch 2011 besuchte Ernst eine von H. organisierte Sonnenwendfeier in Thüringen. Das belegt ein Foto von der Feier das dem Verfassungsschutz vorliegt und auch Thema im Gerichtsprozess war. Das Foto ordnete der Geheimdienst jedoch nicht Stephan Ernst zu. So kam das Amt 2015 zu der Einschätzung Ernst sei „abgekühlt“, – also nicht mehr in der extremistischen Szene aktiv. Die Beobachtung von Ernst wurde eingestellt, seine Akte gesperrt. Dass diese Einstufung eine Fehleinschätzung war, belegt auf dramatische Weise die Ermordung Lübckes.
In der rechtsextremen Kameradschaftsszene in Kassel war der geständige Lübcke-Mörder Stephan Ernst auch mit zwei weiteren Rechtsextremen bekannt, die ebenfalls auf der NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft stehen. Einer davon gab bei einer polizeilichen Vernehmung und vor dem hessischen Untersuchungsausschuss an, er glaube Mundlos und Böhnhardt bei einem Konzert im Jahr 2006 gesehen zu haben. Das Konzert sei in Kassel gewesen, vielleicht aber auch in Thüringen.
Noch weitere Hinweise deuten darauf hin, dass die NSU-Terroristen schon vor dem Mord in Kassel waren. Die Kasseler rechtsextreme Kameradschafts-Szene, über die Ernst auch seinen mutmaßlichen Helfer Markus H. kennenlernt, ist in dieser Zeit sehr gut nach Thüringen vernetzt.
Während der NSU in den 2000er-Jahren Anschlagsziele auskundschaftet, Sprengstoffanschläge verübt und mordet, sammelt auch Stephan Ernst Informationen über seine verhassten Feinde und notiert sie als „potenzielle Anschlagsziele“, wie die Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift festhält.
Beim NSU tauchte unter den potenziellen Anschlagszielen auch der Name Walter Lübckes auf, den Ernst Jahre später ermordet. Die NSU-Terroristen notierten sich aber für Kassel neben weiteren Adressen auch die der lokalen Jüdischen Gemeinde. Genau zu dieser Adresse besaß auch Stephan Ernst Notizen, die auf das Ausspähen der Synagoge der Gemeinde hindeuten. Ermittler fanden die Notizen, neben Informationen zu rund 60 weiteren Namen und Institutionen, auf einem verschlüsselten USB-Stick, der bei Ernst sichergestellt wurde.
Auch bei der Verteidigung im Mordprozess zum Fall Lübcke gibt es Parallelen zum NSU-Komplex. Markus H., der mutmaßliche Komplize von Ernst, wird vor Gericht von der Anwältin Nicole Schneiders vertreten, die im NSU-Prozess in München R. W. vertrat. W. war, wie mutmaßlich Markus H. im Mordfall Lübcke, beim NSU in die Beschaffung der Tatwaffe involviert und wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Schneiders kannte W. aus der Jenaer NPD, sie war dort stellvertretende Vorsitzende, als W. den Posten des Kreisvorsitzenden innehatte. Der zweite Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, war 2018 kurzzeitig Wahlverteidiger von A. E., der zu der Zeit Angeklagter im NSU-Prozess war.
Stephan Ernst wurde vor Gericht zeitweise von Dirk Waldschmidt vertreten, der im NSU- Prozess als Rechtsbeistand von A. K. auftrat. K. hatte dem Trio im Untergrund geholfen. Vor Waldschmidt, ehemals Vize-Chef der hessischen NPD, soll sich Ernst auch selbst mit W. verglichen haben, wie dieser vor Gericht aussagte.
Ernst und der NSU, Kassel und Thüringen, der Lübcke-Mord und die NSU-Taten: Die Indizien sind erdrückend, dass es sich um dasselbe Umfeld handelte, in dem sich die Mörder radikalisierten. Die Verbindungen zu Personen, die sowohl mit dem NSU-Trio als auch mit Ernst zu tun hatten, und die nun immer mehr ans Licht kommen, zeigen deutlich, wie eng das Netzwerk ist, in dem nach wie vor ungeklärt ist, welche Rolle der Verfassungsschutz spielt.
Nach dem Ende des Gerichtsprozesses gegen Ernst und Markus H. müssen diese Verbindungen weiter aufgeklärt werden. Der Untersuchungsausschuss des Landtages in Hessen kann das angehen.
Wie kam es zu diesen und weiteren Verbindungen von Ernst zum NSU-Umfeld und wie eng waren sie? Wir erzählen im Folgenden die Chronologie einer Radikalisierung. Sie ist zugleich eine Dokumentation über eine stark verwobene rechtsradikale Szene, über Treffpunkte, gemeinsame Sonnenwendfeiern und Besuche zwischen Kassel und dem nahe gelegenen Thüringen.
Der Hauptangeklagte Stephan Ernst (hinten, Mitte) spricht mit seinen Anwälten Mustafa Kaplan (hinten, links) und Jörg Hardies (hinten, rechts) in einem Gerichtssaal des Oberlandesgerichts, im Vordergrund der Mitangeklagte Markus H. (r ) sitzt neben seiner Anwältin Nicole Schneiders (l), während sie auf den Beginn eines weiteren Verhandlungstermins im Fall des Mordes an Walter Lübcke warten. Stephan Ernst soll vor einem Jahr den damaligen nordhessischen Bezirkspräsidenten Lübcke auf seiner Terrasse erschossen haben, weil der CDU-Politiker für Flüchtlinge gekämpft hatte. Foto: Foto: picture alliance/dpa/AFP Pool / Thomas Lohnes
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