81 000 Pflegekinder gibt es in Deutschland. Sie wissen, dass sie verlassen wurden und dass Liebe manchmal nur ein Wort ist. Wie leben sie? Und wer hilft ihnen?
Tim* braucht die Messer. In seinem Zimmer, im Schrank, am Bett. Kurze Messer, lange Messer, scharfe Messer, stumpfe Messer, Messer zum Schnitzen, Messer zum Fische aufschlitzen.
Sein Vater sagt: „Das hat nach der Sache vor Gericht angefangen, er bewaffnet sich. Als ob er sich schützen müsste.“
Seine Mutter sagt: „Wenn sie wieder abgesagt hat, braucht er seine Messer. Ich hab manchmal Angst.“
Tim sagt: „Mama, ich pass gut auf. Mit einem Messer kann man Gerechtigkeit schaffen, aber auch Frieden für sich selbst.“
Tim ist zwölf. Sein Vater und seine Mutter sind nicht seine leiblichen Eltern. Er wohnt seit elf Jahren bei ihnen. Er nennt sie Mama und Papa. Seine leibliche Mutter hat er zum letzten Mal vor fast zwei Jahren gesehen. Er schreibt ihr manchmal. Manchmal schreibt sie zurück. Die Sache vor Gericht: Da wollte sie ihn wiederhaben.
Tim sagt: „Wenn man in den Wald geht und etwas schnitzt und mit den Händen etwas baut, dann kann man Frieden finden.“
Er muss mit der Frage fertigwerden: Warum hat meine Mutter mich verlassen? Er muss die Frage jetzt aushalten, er muss sie in der Pubertät aushalten, er muss sie als Erwachsener aushalten, er muss sie aushalten, bis er alt und müde ist.
Es gibt 81 000 Pflegekinder in Deutschland. So viele wie nie zuvor. 81 000 Mal die Frage: Warum?
81 000 Antworten.
Wie leben die Kinder, die sich dieser Frage stellen? Auf der Suche nach Antworten bin ich von September 2019 bis Februar 2020 ein halbes Jahr lang durch Deutschland gereist, ich sprach mit Forschern, Psychologinnen, Ärzten, Juristinnen, Mitarbeitern von Jugendämtern, Aktivisten, leiblichen Eltern, Pflegeeltern – und mit Pflegekindern.
Bevor ich all diese Menschen traf, wusste ich fast nichts über Pflegekinder. Ich erinnerte mich an ein paar Kriminalfälle, in denen Kinder nach Misshandlungen im eigenen Elternhaus zu Pflegefamilien gebracht wurden. Fälle, in denen frühere Pflegekinder zu Tätern geworden waren.
Ich las, dass jedes zweite Pflegekind eine psychische Störung habe. In der „Normalbevölkerung“ sei es nur jeder Zehnte. Pflegekinder seien häufiger gewalttätig, kämen häufiger ins Gefängnis, begingen häufiger Suizid.
Wie geht eine Gesellschaft mit denen um, die ihre Hilfe am dringendsten brauchen? Wo kommt man hin im Leben, wenn der Start schwierig ist?
Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert ist ein großer und ernster Mann, der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm. Er hat die erste Ambulanz für Pflegekinder in Deutschland aufgebaut. An einem Tag im Herbst des vergangenen Jahres sitzt er an seinem Schreibtisch, im Rücken viele Bücher.
Als ich ihn frage, warum die Kindheit so wichtig ist für ein gelingendes Leben, welche Fähigkeiten wir als Kind ausbilden, lächelt er kurz und blickt dann wieder ernst. „Fast alle.“
Wie reagieren Kinder, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden, Herr Professor?
„Manche sind aggressiv, andere suchen Nähe, lassen sich aber nicht trösten. Sie verletzen sich selbst, sind apathisch oder wahllos freundlich, haben eine Bindungsstörung. Das sind die jüngeren schwer vernachlässigten Kinder.“
Und die älteren?
„Die können sich oft nicht konzentrieren, zündeln, leiden an Depressionen.“
Viele Pflegekinder wurden von ihren leiblichen Eltern vernachlässigt, geschlagen, missbraucht – und wollen doch nicht weg von ihnen. Warum?
„Weil sie ihnen vertraut sind. Manche sagen später: Das Schlimmste war, dass ich dort wegmusste. Das Jugendamt sehen sie als Aggressor. Wenn das nicht besprochen wird, wenn aus Herkunft und Herausnahme ein Tabu gemacht wird, kann das ein Leben lang schwelen. Deshalb ist Biografiearbeit zentral. Wir wissen, wie heilsam das Erzählen der eigenen Geschichte ist.“
Auch wenn die eigene Geschichte schlimm ist?
„Gerade dann. Viele Menschen, die Schlimmes erlebt haben, geraten in Beziehungen, wo sie ähnlich behandelt werden.“
Weil sich Menschen in Vertrautes flüchten, auch wenn sie das traumatisiert hat?
„Es ist kein Naturgesetz, kein Teufelskreis. Eher sind es Abhängigkeitszyklen, die sich wiederholen. Muster, die sich eingeschliffen haben. Man kann das ändern: durch korrigierende Erfahrungen. Das ist eine der Chancen der Pflegefamilie.“
Was kann die Pflegefamilie einem Kind geben?
„Regelmäßigkeit, Stabilität und Zuverlässigkeit: Das braucht ein Kind, um sich zu entwickeln. Pflegekinder haben oft viele Stationen hinter sich, jede Beziehung, die sie aufgebaut haben, wurde wieder abgebrochen. Sie müssen neu lernen, Menschen zu vertrauen. Nur ein Kind, das sich seiner Beziehung sicher ist, klettert vom Schoß der Mutter und erkundet die Welt.“
Können Kinder in Pflegefamilien auch ein Gefühl dafür entwickeln, wer sie sind?
„Jedes Kind hat irgendwann die Fantasie, in Wahrheit ein Königskind zu sein, das nur dummerweise bei seinen Eltern gelandet ist. Gewöhnlich hört das schnell wieder auf: zu viele Beweise, zu viele Zeugen. Pflegekinder haben die oft nicht. Die wissen nicht: Hat mich ein böses Jugendamt meinen Eltern entrissen, die eigentlich ganz toll waren?“
Eine Pflegefamilie kann die Fragenden und Suchenden auffangen. Kann neue Wurzeln wachsen lassen. Die Kinder haben dann zwei Väter, zwei Mütter. Sie wachsen in zwei Bezugssystemen auf.
Tief im Inneren führen sie ein Doppelleben.
Ein Winterabend in Süddeutschland. Warmes Licht, ein langer Tisch. Draußen geht die Sonne unter, drinnen wird es laut.
„Mama! Ich hab Hunger!“
„Gleich. Aber jetzt tun wir erst mal noch kurz beten, gell?“, sagt Mama.
Auf dem Tisch dampft eine Schüssel mit Hackfleisch-Käse-Auflauf. Tim greift zu.
„Halt, halt, halt. Willst du, Linus?“, fragt Mama.
Linus nickt. Er faltet die kleinen Hände und schließt die Augen.
„Lieber Gott, danke für das Essen.“
„Schön kurz und knackig“, sagt Mama.
„Ich mag keinen Käse“, sagt Julian.
„Ich auch nicht“, sagt Linus.
„Du Affe! Sonst magst du doch auch Käse. Nur weil ich das jetzt sag!“, sagt Julian.
Tim sagt: „Ich mag Käse. Es gibt Leute, die überbacken alles mit Käse. Da gibt es einen Spruch: Was muss ich tun, damit ich dir gefalle? Überback dich mit Käse!“
Alle lachen. Seine Mutter sieht ihn lange lächelnd an.
Tim ist der Junge mit den Messern.
Das ist seine Familie: Mama Bettina, die groß ist und breit, eine Erscheinung, aber eine sanfte. Daneben Papa Michael, schmal und ruhig, der nur laut wird, wenn man ihm auf den Zeiger geht. Neben ihm der leibliche Sohn Julian, ein grummelnder, gutmütiger Bär. Und Linus, auch er ein Pflegekind. Ein aufgedrehter Junge, der auf dem Stuhl hin und her rutscht, ständig quasselt und später mal Römer werden will. In einem Korb auf dem Boden liegt Schnuppe, ein junger Labrador. „Unser neuestes Familienmitglied“, sagt Bettina Spatz.
Von der Tischlampe hängen Luftballons. Julian ist gestern 19 geworden. Tim wird bald 13, Linus bald 6. Er hat sich eine römische Galeere als Geburtstagskuchen gewünscht. Seine Mutter wird ihm eine backen.
Sie sagt: „Wir sind eine ganz normale, glückliche Familie. Aber eine, die viel durchgemacht hat.“ Was sie nicht sagt: eine, die beinahe zerbrochen wäre.
Sie hatten Kinder gewollt, beide, immer, sehr. Es ging nicht. Sie probierten künstliche Befruchtung. Es klappte: Julian kam. Danach klappte es nicht mehr. „Wir wollten aber kein Einzelkind.“
Adoption, hieß es damals, sei schwierig, wenn man schon ein eigenes Kind hat. Eine Freundin erzählte ihnen, dass es so was gibt: Pflegekinder. Bettina und Michael Spatz nahmen einen Jungen auf.
Er sitzt heute nicht am Tisch.
Im Haus hängen nirgends Fotos von ihm. Aber als Bettina und Michael Spatz die Geschichte ihres ersten Pflegesohns erzählen, merkt man: Er ist immer noch da, irgendwie. „Wir mussten uns, bevor wir den Jungen aufnehmen durften, richtig nackig machen“, sagt Michael Spatz. „Polizeiliches Führungszeugnis. Attest. Fragebogen. Gespräche. Hausbesuche. Religiöse Ansichten. Wie man zu Schwulen und Lesben steht. Ist ja auch richtig.“
Bettina Spatz: „Der Anruf kam: Sie hätten jetzt ein Kind.“
Michael Spatz: „Es könnte sein, dass es behindert ist, sagten sie uns. Und: Ihr könnt ja immer noch Nein sagen.“
Bettina Spatz: „Für uns war klar: Natürlich nehmen wir den jetzt auf! Die eigenen Kinder kann man sich ja auch nicht aussuchen.“
Sie hatten sich entschieden, ohne den Jungen gesehen zu haben.
Michael Spatz: „Da war dann was ganz Krasses mit ihm: Der wäre mit jedem Mann mitgegangen, egal, ob er ihn kannte oder nicht. Das hat sich nie geändert.“
Bettina Spatz: „Er ist auch so wackelig gelaufen. Unser Julian war gleich verliebt in ihn. Der hat alles gemacht, was der Julian wollte. Ein Herz und eine Seele.“
Es war nicht leicht, aber Familie Spatz und der Junge wuchsen zusammen. Als er ein Jahr da war, zog seine Tante vor Gericht. Sie wollte den Jungen holen. Es ging hin und her. Monatelang. Irgendwann rief der Vater des Jungen bei Michael Spatz an: Wenn du mir mein Kind nimmst, nehm ich dir deins.
Sie wären weit gegangen. „Aber das“, sagt Bettina Spatz, sei zu viel gewesen.
Nach nur einer Woche war der Junge weg. Es war, als wäre ein Familienmitglied gestorben. Bettina, Michael und Julian Spatz trauerten. Dann riefen die Eltern beim Jugendamt an und sagten: Wir machen weiter. Nach etwas mehr als einem Jahr kam ein anderes Pflegekind: Tim.
Bettina Spatz: „Sie haben uns nicht viel gesagt.“
Michael Spatz: „Nur dass er damals in Bereitschaftspflege war und seine Mutter psychisch krank sei. Und dass er einen älteren Halbbruder habe, der auch in einer Pflegefamilie lebt.“
Erst später haben sie erfahren, warum. Tims Mutter hatte im Streit ein Messer auf den Vater geworfen. Er trug Tims Halbbruder auf dem Arm. „Der Kleine wäre fast gestorben“, sagt Bettina Spatz. Nachher habe das Amt die Mutter im Auge behalten. Und als Tim geboren wurde, gab das Amt ihn bald in Bereitschaftspflege. Von dort kam er zu Familie Spatz.
Tim bekam das Bett des Jungen, der wieder hatte gehen müssen. Er schlief viel. Eine Therapeutin sagte: Manche Kinder flüchten sich in den Schlaf.
Tim erholte sich. Er verstand sich gut mit Julian. Bettina Spatz sagte zu ihm: „Der Julian ist zwar in meinem Bauch, aber du bist in meinem Herz gewachsen.“
Seine leibliche Mutter kam zu Besuch. Unregelmäßig, aber sie kam. Jahre vergingen. Die Kinder wuchsen. Bettina und Michael Spatz fingen an, sich zu entspannen.
Eines Tages klingelte das Telefon. „Tim war vier, fünf Jahre alt, seine Mutter war gerade bei uns gewesen“, sagt Bettina Spatz. „Die Chefin vom Jugendamt rief an: Frau Spatz, jetzt muss ich Ihnen was Schlimmes sagen. Die Mutter hat einen Antrag ans Gericht gestellt. Sie möchte ihn zurückhaben.“
Das darf nicht sein, dachte Bettina Spatz. Geht jetzt alles von vorn los? Familie Spatz nahm sich einen Anwalt. Diesmal würde ihnen niemand das Kind wegnehmen, das sie aufgenommen hatten.
Die Rechte der leiblichen Eltern sind in Deutschland besonders geschützt. Zwei Diktaturen, in denen Kinder aus Familien gerissen wurden, haben ihren Anteil daran. Die Elternrechte stehen ganz vorn im Grundgesetz. Artikel 6 sagt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“
Weiter heißt es: „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“
Eine Verfahrenspflegerin sagte damals, Michael und Bettina Spatz müssten mit Tim über alles reden. Nach dem Gespräch schlief er nicht mehr. Eine Psychologin sagte, man müsse mit Tim jetzt ein Schwert schnitzen. Er brauche seine eigene Waffe, um sich zu schützen.
Wieder ging es monatelang hin und her. Geht er? Geht er nicht?
Die Verhandlung selbst dauerte dann fünf Minuten. „Seine Mutter hat zurückgezogen“, sagt Michael Spatz.
Er habe versucht, diese Frau mit Borderline zu verstehen; die in ihrer eigenen Welt lebe und sie sich schönrede. Sie habe wahrscheinlich ein Hoch gehabt, sagt Michael Spatz, und gedacht: „Warum soll mein Kind nicht bei mir leben?“
Tim, ein fünf Jahre alter Junge, war Gegenstand eines Rechtsstreits geworden. Zwei feindliche Lager zerrten an ihm. Was macht das mit einem Jungen? Der loyal seiner Mutter gegenüber sein will; und zugleich loyal gegenüber seiner neuen Familie?
Als Antwort erzählt Bettina Spatz die Geschichte mit der Büroklammer. Tim gehe auf eine Gemeinschaftsschule, aber vom Wissen her würde er locker das Gymnasium packen. Seine Lehrerin sage immer: Tim könnte viel besser sein, wenn er in der Lage wäre, sich zu konzentrieren. Bettina Spatz erklärt es so: Tim soll eine Aufgabe machen und sitzt vor einem Blatt. Daneben liegt eine Büroklammer. Er konzentriert sich auf die Büroklammer und vergisst das Blatt. „Er hat so viele Baustellen in seinem Kopf, wie soll er sich da auf ein Blatt Papier konzentrieren?“
Das Sorgerecht, um das so heftig gestritten wurde, haben nun Bettina und Michael Spatz. Es gibt ihnen etwas Sicherheit. Den meisten Pflegeeltern fehlt diese Sicherheit. Meist liegt das Sorgerecht bei den leiblichen Eltern oder beim Amt.
Tim geht jetzt zu den Pfadfindern. Da baue man Sachen im Wald und dürfe schnitzen, sagt er. Zu Hause gilt die Regel, dass seine Messer in einem verschließbaren Schrank verwahrt werden, aber manchmal nimmt er ein Taschenmesser mit ans Bett. Er muss es nicht benutzen. Allein dass er es neben sich weiß, gibt ihm ein wenig Ruhe.
Es ist fast zwei Jahre her, dass er seine leibliche Mutter gesehen hat. Er will nicht gern über sie reden. „Sie bringt sein Leben nach wie vor komplett aus der Bahn“, sagt Michael Spatz, als Tim das Zimmer verlassen hat. „Sie meldet sich irgendwann und dann nicht mehr.“ Wie an Weihnachten. „Sie sagt, sie kommt, und dann kommt sie nicht.“ Oder sie sagt: Ich schenk dir eine Mitgliedschaft im Fußballverein. Dabei interessiere ihn Fußball gar nicht.
Aber er hätte das Geschenk genommen, sagt Bettina Spatz.
„Einfach um seine Mutter zu sehen.“
Wovor haben Sie Angst, Frau Spatz?
„Dass ich eines meiner Kinder doch noch verliere.“
Und Sie, Herr Spatz?
„Vor dem Tag, an dem Tim sagt: Du hast mir nichts zu sagen, du bist nicht mein Papa.“
Was würden Sie antworten?
„Ich weiß nicht. Ich hoffe einfach, dass ich nicht in dieselbe Kerbe schlage. Ich lieb den Tim. Nur ganz selten, wenn es vorne und hinten nicht klappt, stelle ich mir die Frage: Wäre es anders, wenn Tim das leibliche Kind wäre? Aber diesen Gedanken tu ich ganz schnell wieder weg.“
„Du bemühst dich“, sagt Bettina Spatz.
„Ja, ich bemüh mich.“
Tim ist ein blasser, stiller Junge mit klugen Augen, die blitzen, wenn er etwas weiß und das auch sagen kann. Er sitzt auf dem Sofa. Auf seinem Schoß hält er ein dickes Fotoalbum. Seine Bereitschaftspflegemutter hat es für ihn angelegt, seine Pflegeeltern haben es weitergeführt. Auf der ersten Seite steht:
„Lieber Tim, heute habe ich den Anruf bekommen, dass beim Jugendamt ein kleiner Junge ist, der eine Zeit lang zu uns kommen soll, weil seine Mama ihn im Moment nicht versorgen kann. Wir freuen uns sehr auf dich und was wir alles mit dir erleben werden. Wir, das sind: die Familie P.“
Er blättert die Seite behutsam um. Das Papier ist dünn, aber nicht gerissen. Er sagt, er schaue sich die Fotos zwei-, dreimal pro Woche an, abends, wenn er auf dem Bett sitze. „Ich kann danach besser schlafen.“
Der Hund kaut an seinen Socken. Tim merkt es nicht. Er zeigt auf ein Foto, auf dem er etwa drei Jahre alt ist und auf etwas herumbeißt. Er sagt: „Hier hab ich Salami gegessen.“ Er blättert weiter. Ein kleiner Junge badet in einem Planschbecken. „Da kann ich mich dran erinnern! Da war ich eineinhalb oder so.“
Er benennt Namen und Orte. Jedes Detail, jede Geste auf den Fotos hat Bedeutung. Er spricht schnell, blättert schnell. Es ist seine Vergangenheit, in der er blättert. Sein Leben. Als liefe ein Film in ihm ab. Ein Film, über ihn selbst.
Bettina Spatz sitzt drüben am Esstisch und hört aufmerksam zu.
Tim sagt: „Das ist mein Lieblingskuscheltier. Hasi. Ihn hab ich seit meiner Kindheit.“ Bettina Spatz ruft herüber: „Er kann sich da jetzt aber nicht dran erinnern. Er erinnert sich praktisch nur durch unsere Erzählungen.“
Tim legt die Seiten um. Seidenpapier raschelt. „Das ist halt eben meine leibliche Mutter und mein leiblicher Vater. Die liegen mit mir auf dem Teppich und spielen.“
Er blättert rasch weiter.
Fotos von seiner neuen Familie. Dann: Tim in einem selbst gebauten Iglu. „Und natürlich ist Hasi mal wieder dabei.“ Tim sagt: „Mein treuer Begleiter.“
Hast du Hasi schon mal verloren?
„Ich pass so gut auf Hasi auf. Als wär er mein eigener Finger oder mein Gehirn. Wenn ich überhaupt ein Gehirn hab.“
Was würdest du machen, wenn jemand dir Hasi wegnehmen wollte?
„Der würde Hasi vielleicht kriegen, aber meine Faust auch.“
Ich würde gern mit Tims leiblicher Mutter sprechen. Aber Familie Spatz will das nicht. Das Jugendamt auch nicht. Und Tim auch nicht. Also lasse ich es. Es gibt ja noch andere Fragen.
Zum Beispiel: Warum nehmen die meisten Menschen keine Pflegekinder auf – und andere 71?
In Hamburg-Wandsbek steht ein schmales Reihenhaus. Je länger man sich darin aufhält, desto größer wird es scheinbar. In den vergangenen 40 Jahren haben hier mehr als 80 Menschen gelebt. Manche ein paar Tage, andere ein paar Jahre. Zwei seit dem ersten Tag.
„Ich hab das nicht, dieses: Ich brauch mal Zeit für mich“, sagt Gerd Spiekermann.
„Man muss nur bereit sein, andere Menschen in sein Leben zu lassen“, sagt Heike Spiekermann.
Man ist schnell bei „Heike“ und „Gerd“.
Sie sitzen an einem großen Holztisch. Er ist in durchsichtiges Plastik eingeschlagen. Es gibt starken schwarzen Tee und Kekse. Heike wiegt ein Baby auf dem Arm. Daneben sitzt eine junge Frau und tippt in ihr Handy. Gerd zeigt auf sie und das Baby. „Pia und ihr Kleines, Nummer 70 und 71.“ Er grinst. Mutter und Kind, das hatten sie noch nie.
Heike und Gerd machen Bereitschaftspflege, eine besonders intensive Form, sie kümmern sich rund um die Uhr. „Kann nicht jeder“, sagt Gerd. Im Monat bekommen sie 2000 Euro pro Kind. „Ein Erziehergehalt“, sagt Heike. „Ein Heim für die beiden würde 12 000 Euro kosten“, sagt Gerd.
Sie waren jung, als sie das Haus bezogen – erst WG, dann Familienhaus. Hier ließen sie ihre eigenen Kinder aufwachsen, hier ließen sie sie wieder gehen, nahmen neue Kinder auf und ließen auch sie wieder gehen.
Sie wurden alt dabei und das Gegenteil von verbittert.
Gerd ist 67, Heike 64. In der Küche streiten zwei Hunde. Zwei Katzen streifen um den Tisch. Gerd war Journalist beim NDR, Heike arbeitete zu Hause. Seit 24 Jahren nehmen sie Kinder zu sich: große, kleine, laute, leise, sonderbare. Einige wollten nicht mehr gehen. Fünf mussten gehen. Einer hat den Safe mit dem Konfirmationsgeld der Tochter ausgeräumt. Einer hat die Tochter bedroht, ein anderer die Möbel zerhauen. Einer brüllte: „Ihr Nazis!“
Gerd erzählt seine Lieblingsgeschichte. „Wir hatten einen. Mario. 12 oder 13?“
Er schaut rüber zu Heike. Sie nickt.
„Der sollte ins Internat, wollte aber nicht. Da ist er abgehauen.“ Er wurde gefunden, kam ins Internat.
„Drei Jahre später klingelt es bei uns an der Tür. Und wer steht da? Mario! Mit seiner Vormundin. Groß. 16 Jahre alt. Man stand da so ’n bisschen und schnackte. Und dann kommt er damit raus: Ich mach demnächst Mittlere Reife!“
Gerd breitet die Arme aus wie ein Opernsänger, der auf Applaus wartet. „Als der hier ankam, war die Option: Sonderschule. Wenn überhaupt. Und dann mittlere Reife! Er hatte sogar eine Vorstellung, was er beruflich machen wollte. Irgendwas Handwerkliches …“
Er schaut zu Heike. Sie nickt.
„Eigentlich sind wir eine Beruhigungs- und Auffangstation“, sagt sie. „Wie für Seehunde, die ihre Mutter verloren haben.“ Bloß halt ohne Seehunde, dafür mit Kindern. „Bei uns kriegen sie geregelte Mahlzeiten, und wenn sie aus der Schule kommen, ist jemand da.“ Und wenn sie sich erholt haben, gehen sie wieder.
Am Anfang sei das schwer gewesen, sagt Heike. Die ersten fünf wollten sie alle behalten. Aber wenn man das vier, fünf, zehn, zwanzig Mal gemacht habe, werde es zu einem Mechanismus. „Auch Trennung kann man lernen“, sagt Heike.
Wie?
„Ich denk dann: Ich kann diesem Kind, das jetzt vor mir steht, nur helfen, weil das andere gegangen ist“, sagt Heike.
Gerd sagt: „Wir sind doch nicht die beste Lösung für das Kind. Das wäre arrogant. Zu sagen: Nur bei uns kann es glücklich werden. Stimmt ja nicht.“
Die beiden sind wie zwei alte Bäume, in deren Rinde Generationen junger Leute ihre Namen geritzt haben. Heike und Gerd sind einfach stehen geblieben und geben weiter Schatten und Schutz. Wahrscheinlich sind ihre Wurzeln tief.
„Wir sind religiös, wie viele Pflegefamilien. Wir brauchen hier keinen Dank. Den kriegen wir woanders“, sagt Heike.
Sie haben Regeln in ihrem Haus: Seine Bewohner bleiben heil. Das Inventar bleibt heil. Und die Tiere bleiben heil. „Über alles andere lässt sich diskutieren“, sagt Heike.
Wenn Kinder ins Spiel kommen, wird es schnell emotional. Die Spiekermanns sind die Pragmatiker in diesem Spiel. Wer kuscheln will? Wird gekuschelt. Wer die Katzen tritt? Fliegt. Abschied? Kann man lernen.
Aber wer entscheidet, dass es Zeit ist für Abschied?
Ein sonniger Februarmorgen in Stuttgart. Im großen Besprechungszimmer des Pflegekinderdienstes sitzen sieben Frauen und ein Mann. Sie sind Teil des Jugendamts, jener Behörde, die in den Augen vieler Menschen im Grunde nur zwei Dinge tut: Familien auseinanderreißen oder – wenn ein Kind zu Schaden kommt – zu spät eingreifen. Sie kennen die Vorwürfe hier. Sie sind das Grundrauschen ihrer Arbeit, so präsent wie das Rauschen der Autos, das durch das große Fenster dringt.
Kevin Wagner, 27, leitet die Besprechung, er hat gleich nach der Uni hier angefangen. Auf dem Tisch stehen Kaffee, Tee, Wasser mit und ohne, eine Topfpflanze. Die Frauen tragen die Haare kurz oder mittellang, sie sind ein paar Jahre dabei oder ein halbes Leben.
Die ausgedruckte Tagesordnung sieht vor:
1. Fallverteilung
2. Ergänzung zur Tagesordnung
3. Information/Leitung
4. Organisation
5. Kinder
6. Neue Pflegefamilie
7. Fallbesprechung
8. Themenschwerpunkt
Das Feld hinter „Neue Pflegefamilie“ ist leer. So ist das meistens. Überall in Deutschland fehlen Pflegefamilien.
Jetzt geht es um einen neuen Fall. Das heißt: um ein Kind. Kira. Wagner nickt einer Kollegin zu: „Möchtest du beginnen?“
Kollegin A: „Ich habe ein Genogramm, allerdings nur das vom Bruder.“
Ein Stammbaum wird ausgeteilt.
A: „Kira fehlt noch. Erst vor ein paar Wochen geboren. Anderer Vater. Sie ist noch in der Klinik. Schaut euch das an: Da geht’s ganz viel um Drogen.“
Die Familienmitglieder sind als 17 Kreise und Kästchen dargestellt. Frauen sind Kreise, Männer Kästchen. Sechs sind mit einer kleinen Spritze versehen. Neben einem Kästchen ist eine kleine Flasche. Daneben steht: schwerer Alkoholiker.
Es kommen noch drei Blätter. Da steht:
1. Kind: Kira.
Das Mädchen liegt immer noch mit starken Entzugserscheinungen auf der Neonatologie. Eltern waren zuletzt Ende Januar da. Nur etwa alle zwei Tage und nur kurz.
2. Mutter: Pamela O.
Grund der Inpflegegabe: Mutter ist substituiert mit Beikonsum, verweigerte vor der Geburt die Zusammenarbeit, sodass kein Schutzkonzept erarbeitet werden konnte.
Eine Kollegin legt das Blatt auf den Tisch, schüttelt den Kopf und atmet langsam aus.
Wagner: „Sind alle fertig? Gibt’s Fragen?“
B: „Rückfrage: Du hast nix angekreuzt: befristet oder dauerhaft bei Pflege?“
A: „Offene Perspektive.“
B: „Des heißt?“
A: „Dass ich es nicht weiß. Erst hab ich’s angekreuzt mit dauerhaft, aber dann hab ich mir gedacht: Eigentlich hat’s mir noch keiner gesagt, also hab ich’s wieder rausgemacht. Ich geh schon davon aus: dauerhaft.“
B: „Weiß die Mutter über die Idee Vollzeitpflege Bescheid?“
A: „Also von mir nicht. Aber die haben ihr das schon gesagt. Es gibt ja einen Vormund. Das Sorgerecht ist komplett entzogen.“
Die nächsten Wochen entscheiden über Kiras Leben, das wissen sie hier. Sie ist in der Klinik, die Eltern können sich nicht kümmern. In der Bereitschaftspflege gibt es keinen Platz. Aber Kira braucht eine Bezugsperson. Schnell.
Eine Kollegin hat eine potenzielle Pflegefamilie, aber die ist noch nicht fertig überprüft. Kollegin B hat eine fertig überprüfte Familie, aber die will bald wegziehen.
B: „Na ja, meine Pflegefamilie hat halt keine Erfahrung in der Versorgung von solchen Kindern. Aber sie könnten sofort einsteigen und Kira besuchen. Das braucht sie jetzt.“
Kollegin C mischt sich ein. Sie fragt: Die leiblichen Eltern könnten sich doch wieder fangen und selbst für Kira sorgen, oder?
B: „Aber das ist eine substituierte Mutter, die keinen Wohnraum hat!“
Kollegin D: „Und der Vater? Von dem weiß man nicht mal den Namen!“
Sie schweigen. Draußen rauschen die Autos.
Sie wissen noch nicht, wo Kira unterkommen wird. Es wird sich zeigen. Sie tun, was sie können, aber sie alle haben noch andere Fälle. Mehr als genug. Im Durchschnitt kümmert sich jede Mitarbeiterin hier um 50. Empfehlung des Landesjugendamts sind 30. Kevin Wagner fing an mit 63.
Als die Besprechung vorbei ist, sitzt er im Büro und sagt, dass Kira ein typischer Fall sei: die Drogen, die Vernachlässigung, aber auch die Diskussion der Kolleginnen. Holen wir Kira? Lassen wir sie bei den Eltern?
In Wagners Schrank steht eine russische Matrjoschka: eine bemalte Holzpuppe. Man kann sie öffnen. Darin ist wieder eine Puppe. Darin ist wieder eine Puppe. So geht das immer weiter. Bis man irgendwann zum Kern kommt. Zur kleinsten Puppe. Zum Kind.
Ein Kind. Das Wohl des Kindes.
Dem Kind geht es schlecht. Es kann nicht bleiben, wo es ist.
Wer kümmert sich? Wer entscheidet? Eltern? Geschwister? Mitarbeiter vom Jugendamt? Richter? Gutachter? Anwälte? Pflegefamilie? Politiker?
Schicht um Schicht legt sich um das Kind. Eine umgekehrte Matrjoschka. Und irgendwann weiß keiner mehr, worum es eigentlich ging.
Es gibt einen Spruch in deutschen Jugendämtern: Du kriegst das Kind raus aus der Familie, aber du kriegst die Familie nicht raus aus dem Kind.
Ist das Kindeswohl gefährdet, greift der Staat ein. Inobhutnahmen können aussehen wie Kindesentführungen, sagt eine Sozialarbeiterin, die oft dabei war. Manche Kinder umklammern die Beine ihrer Eltern und schreien. Andere sind wie eingefroren. Wieder andere plappern unbekümmert los, kaum dass sie im Auto der Sozialarbeiterin sitzen.
Kevin Wagner macht keine Inobhutnahmen. Er sei froh darüber, sagt er.
Wagner kommt ins Spiel, wenn es darum geht, Kinder in Familien zu platzieren: das „Matching“.
Was normalerweise die Natur regelt – dieses Kind wird in jene Familie geboren –, übernehmen Wagner und seine Kolleginnen: Menschen mit guten Absichten, mit Engagement, Menschen auch, die fehlbar sind und irren können.
Je länger ich mich mit Pflegekindern und dem System dahinter beschäftige, desto mehr habe ich das Gefühl, auf ein riesiges Bild zu starren. Ein Bild mit tausend Menschen, Gefühlen, Gedanken. Angst. Hoffnung. Manchmal sehe ich ein Wimmelbild von Ali Mitgutsch, bunt und voll schöner Überraschungen. Und manchmal starre ich auf ein düsteres Gemälde, wie von Hieronymus Bosch, wo es auch wimmelt, aber nur von Verzweiflung und Leid.
Kevin Wagner sagt: „Ich versuche, mich an den schönen Fällen festzuhalten.“
Es kommt wahrscheinlich ein bisschen drauf an, wie man sonst so aufs Leben schaut.
„Mich ärgert, wenn manche Psychiater diese Kinder pauschal pathologisieren“, sagt Klaus Wolf. „Es ist doch viel spannender zu schauen: was die alles schaffen!“
Wolf, Professor für Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik, hat an seiner Uni in Siegen die „Forschungsgruppe Pflegekinder“ geleitet. Er geht in den Ruhestand, aber jetzt wird er noch mal ungemütlich: „Wer denkt, dass Kinder völlig heil durchs Leben kommen, hat vom Menschen nichts verstanden!“
Er wandert um den Küchentisch seines Hauses am Rande von Hamburg. Seine weißen Haare stehen vom Kopf ab, der Musketierbart lässt ihn verwegen aussehen. An der Haustür hängt ein Schild: „Traue nicht dem Ort, wo kein Unkraut wächst.“
Bei jedem Satz, der so anfängt: „Die Pflegekinder sind so und so“, sträube sich was in ihm, sagt Wolf. „So nach dem Motto: Die sind alle gestört, die schaffen es sowieso nicht.“ Er setzt Teewasser auf.
Aber Pflegekinder sind doch gefährdeter – was Drogen angeht, Gefängnis, Suizid?
„Statistisch ist ihr Anteil höher, ja. Aber gefährdeter? Was sagt Statistik denn über den Einzelnen aus? Nichts. Man kann es auch umdrehen: Viele Pflegekinder sind resilienter als andere Kinder, also widerstandsfähiger gegenüber Belastungen.“
Woran liegt das?
„Manche mussten schon früh mit gravierenden Problemen umgehen. Sie haben gelernt, sich von solchen Schwierigkeiten nicht entmutigen zu lassen. Andere Probleme im späteren Leben erscheinen ihnen dann nicht so schlimm. Zudem machen diese Kinder in ihrer Pflegefamilie oft sensationell neue, positive Erfahrungen mit Menschen. Sie vergessen ihre Belastungen zwar nicht, aber sie ergänzen sie.“
Trotzdem sind da doch die alten Fragen: Warum konnte ich nicht bei meiner Mutter bleiben? Wenn ich selber Kinder kriege, wiederholt sich dann mein Schicksal?
„Aber die Antworten können sich im Laufe des Lebens verändern! Eine junge Frau, die ihre Mutter bisher immer als Verräterin gesehen hat, versteht ihre Mutter plötzlich: keine Verräterin mehr, sondern eine junge Frau, die im Stich gelassen wurde. Schicksal muss sich nicht wiederholen. Es kommt darauf an, wie man mit den Erfahrungen umgeht.“
Erleben Sie solche Wandlungen häufiger?
„Ja, sehr häufig. Bei manchen Pflegekindern spielt die Herkunftsfamilie keine Rolle mehr. Und sieben Jahre später ist plötzlich wieder reger, enger Kontakt da.“
Mit der eigenen Vergangenheit abschließen: Das geht also gar nicht?
„Genau. Wir sagen: Da gärt noch viel.“
Wenn alles veränderbar, nichts sicher ist – wie soll man denn da ein entspanntes Leben führen?
„Man beschäftigt sich ja nicht ständig damit! Ein Kollege hat Menschen untersucht, die als Kind im KZ gelebt haben. Manche waren sich in der Hauptphase ihres Lebens sicher, alles gut im Griff zu haben. Und im Alter tauchten die Erinnerungen wieder auf. So wie bei Menschen, die als Neugeborene adoptiert wurden – die ein langes, glückliches Leben hatten und sich im Alter plötzlich fragen: Was war eigentlich mit meiner Mutter los? Das passiert oft, wenn sie gebrechlich werden. Eine Art körperbezogene Erinnerung.“
Am Ende unseres Gesprächs erzählt Wolf eine Geschichte. Sie geht mir lange nicht aus dem Kopf. Er besuchte einmal ein Mädchen für ein Interview. Elf, zwölf Jahre alt. Schwierige Vergangenheit. Sie spielten auf dem Boden. Er staunte, wie fröhlich das Kind war. Irgendwann strahlte es und rief: „Ich hab ja zwei Mamas!“ Er verstand sie so: „Und du arme Sau hast nur eine!“
Vielleicht muss es gar nicht die Urkatastrophe im Leben eines Menschen sein, nicht bei seinen Eltern aufzuwachsen?
Man kann den Gedanken zynisch finden. Weil es den Verlust des Kindes irgendwie kleiner macht, wenn man sagt: Du kannst womöglich lernen, damit umzugehen. Und: Bei deinen leiblichen Eltern wäre es dir schlechter gegangen. Ich verstehe den Punkt.
Aber man kann es auch anders sehen: Man kann sagen, dass diese Kinder die Chance haben, die ganze Scheiße hinter sich zu lassen.
Oder zu dem Schluss zu kommen: Das ist gar keine Scheiße gewesen.
Manchmal, sagt Gerry Holzapfel, hält er es kaum aus: Wenn Weihnachten ist, an Silvester. Weil er dann immer denken muss: „Wär das schön, wenn er jetzt hier wär, bei mir.“ Er geht dann lange spazieren oder telefoniert mit seinem Bruder. Und manchmal, wenn es ganz schlimm wird, er es kaum mehr aushält und nur noch schauen muss, dass der Sturm aus Trauer und Schmerz in seinem Kopf aufhört: Möbel rücken.
Er muss lachen.
„Nee, echt, ich stell dann die ganze Wohnung um. Das hilft.“
Sein Sohn Frederik muss auch lachen. Sogar Frau Müller lacht.
Frau Müller ist die Frau, die Gerry Holzapfels Sohn aufgenommen hat. Er nennt sie so: Frau Müller. Sie siezen sich. Seit damals, vor fast neun Jahren, als sie sich kennengelernt haben. Frederik war drei Monate alt, sein Vater konnte nicht für ihn sorgen (er will nicht darüber sprechen, warum), und Frederik sollte fortan bei ihr leben.
Frau Müller. Herr Holzapfel. Frederik sagt Mama und Papa. Frederik ist neun Jahre alt. Rotes Haar und ein Lächeln, das einen umhaut, das noch breiter wird, wenn ihm sein Vater durch die Haare fährt. Man sieht dann seine Grübchen. Sein Vater hat die gleichen. „Wie aus dem Gesicht geschnitten, oder?“, sagt Herr Holzapfel, seine Augen flehen.
Zum Glück wohnt Frau Müller auch in Bremen. Herr Holzapfel hat das Sorgerecht und darf Frederik jede Woche sehen.
Sie spielen dann Tischtennis oder gehen schwimmen, manchmal auch zu dritt. Sie waren auch schon bei Werder im Stadion. Sie sehen sich zwei, drei Stunden, dann holt Frau Müller ihn wieder ab.
Frau Müller sagt: „Wir haben sogar seinen neunten Geburtstag zusammen gefeiert.“
Frederik sagt: „Das war schön! Es ist schön, wenn meine Eltern was zusammen machen.“
Sie waren Kart fahren, einen ganzen Vormittag lang. Frederik hatte seine Freunde eingeladen. Frau Müller sagt: „Da war er so stolz: weil sein Papa da war. Er hat seinen Freunden gesagt: Das ist mein Papa! Es war so wichtig für ihn zu zeigen: Den gibt’s wirklich!“
Herr Holzapfel sagt: „Es war wunderschön. Es gibt kein anderes Wort dafür. Als er gesagt hat: Das ist mein Papa!“
Frau Müller und Herr Holzapfel machen das, was das Gesetz vorsieht, was in Wirklichkeit aber fast nie vorkommt: Sie arbeiten zusammen.
Sie haben auch gemeinsam entschieden, dass über Frederiks Mutter nicht geredet wird. Nur so viel: Sie wohne irgendwo in der Nähe. Die Betonung liege auf „irgendwo“, sagt Herr Holzapfel. Frederik werde der Erste sein, mit dem er über alles reden werde. Wenn er so weit sei.
Er meint Frederik, und wohl auch ein bisschen sich selbst.
Welche Rolle bleibt Ihnen noch als Vater, Herr Holzapfel?
„Er kann sich auf mich verlassen. Immer. Wenn er mich anruft, geh ich ran und helfe ihm, auch wenn ich bei der Arbeit bin, mein Vorarbeiter drückt ein Auge zu.“
Frau Müller sagt, dass Zuverlässigkeit das Allerwichtigste ist. Wichtiger als Elternrechte. „Ich muss mich auf Herrn Holzapfel verlassen können. Und Frederik auch.“
Etwa wenn sie Frederik zu einem Treffen fährt. Andere Pflegemütter könnten nie sagen: Wir fahren zu Papa. Die wissen, dass Papa oft nicht auftaucht, und sagen deswegen: Wir fahren zum Schwimmen. Und erst kurz vorher, wenn sie den Papa am Straßenrand sehen, sagen sie: Wir treffen den Papa. „Bei uns ist das anders. Ich kann immer sagen: Wir fahren zu Papa.“
Sie sieht zu ihrem Sohn: „Herr Holzapfel sagt auch nie: Bald wirst du bei mir wohnen. Ich weiß, dass er das nicht sagt, und das gibt mir Sicherheit.“
So hat sie nicht von Anfang an gedacht. Es war auch für sie schwierig. Erziehung allein ist schwierig, und mit jedem, der mitredet, wird es noch schwieriger. Sie mussten beide loslassen, ein bisschen.
Herr Holzapfel sagt, er habe sich eigentlich von dem Gedanken verabschiedet, dass Frederik zu ihm zurückkommen soll. Es gehe ihm ja gut, so wie es ist. Er wolle ihn da nicht mehr rausreißen. „Das wär für ihn noch ein Genickbruch.“
Soweit ich weiß, wurde Frederik nie geschlagen.
Er ist ein Pflegekind. Die Statistik sagt, dass Pflegekinder häufiger geschlagen werden, häufiger zuschlagen, häufiger im Gefängnis landen, häufiger Suizid begehen. Aber was sagt Statistik über den Einzelfall aus? Nichts.
Es gibt die Vorstellung, dass Eltern, die als Kind Gewalt erfahren haben, diese Erfahrung an ihre Kinder weitergeben. Forscher nennen das „Cycle Of Violence“. Der Kreislauf der Gewalt. Die Vorstellung ist verbreitet. Sie klingt logisch. Wer getreten wird, tritt selbst. Druck, der Gegendruck erzeugt.
Dabei haben, laut Professor Fegert, Studien auf der ganzen Welt etwas anderes ergeben: 80 Prozent der Kinder mit Gewalterfahrung schaffen als Erwachsene mit ihren Kindern einen Neuanfang.
Kein ewiger Kreis. Kein Schicksal.
Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen müssen, sind eine uralte menschliche Konstante. Die alten Schriftreligionen beschäftigen sich damit. Forscher. Schriftsteller. Eine existenzielle Not, die einen Ausweg erfordert: handeln, Gesetze – oder Fantasie.
Die Geschichten der Menschen sind voll mit Waisen und Pflegekindern, Moses, Pippi Langstrumpf, Harry Potter. Ihre fehlenden oder doppelten Eltern sind kein Makel, sie machen sie interessant.
Sogar Jesus hatte zwei Papas.
Früher Nachmittag. Das Café Bilderbuch in Berlin-Schöneberg. Draußen ist schon fast Frühling. Eine junge Frau kommt zur Tür herein. Sie lächelt schüchtern, setzt sich, bestellt Latte macchiato. Als das Glas kommt, hält sie es mit beiden Händen fest. Sie beginnt zu erzählen. Als sie fertig ist, liegt Berlin dunkel da. Das Glas hat sie nicht losgelassen. Der Kaffee ist kalt.
Michelle ist 27 Jahre alt. Sie ist das, was man einen Care Leaver nennt: ein ehemaliges Pflegekind, das die Obhut des Staates verlassen hat.
Ihre Akte ist geschlossen.
Wie leben Pflegekinder in Deutschland? Mit dieser Frage ging meine Recherche los. Das wollte ich von Forschern wissen, von Mitarbeitern der Jugendämter, von Ärzten, Juristen, Müttern, Vätern. Aber wahrscheinlich kann Michelle die Frage am besten beantworten.
Das ist ihre Geschichte:
„Ich wuchs bei meinen Eltern auf. Mama war der Familienmensch, Papa der Freigeist. Er ging mit mir Pilze sammeln, besorgte mir Bücher. Einmal nahm ein Junge meinen Ball weg. Ich lief zu Papa. Er sagte: Den musst du dir selber holen. Ich lief dem Jungen nach und stürzte mich auf ihn. Dann trug ich den Ball zurück. Mein Knie blutete. Es war mir egal. Ich war stolz.
Ich war acht, als meine Mutter an Brustkrebs starb. Mein Bruder war schon ausgezogen. Papa verfiel immer mehr dem Alkohol, litt an Depressionen. Er war eine verlorene Seele. Kurz vor meinem 14. Geburtstag nahm er sich das Leben.
Meine Klassenlehrerin beschloss, mich aufzunehmen; ohne ihren Mann zu fragen. Ich merkte, dass es ihr wichtig war, und dachte: lieber zu ihr als zu fremden Leuten. Ich hatte gar keine besondere Beziehung zu ihr.
Sie hatten keine Erfahrung als Pflegeeltern, nur zwei erwachsene Töchter. Das Zimmer der Jüngeren war frei. Es war wie ein Gästezimmer für mich. Papas Wohnung wurde ausgeräumt. Ich durfte nur eine Tasche packen. Ein paar Kinderbücher, Fotoalben. Ich habe – außer einem Gemälde – keine Erinnerungsstücke.
Meine Pflegemutter hat sich bemüht, wir haben viel unternommen, trotzdem war es schwierig. Manchmal hieß es über Papa: ‚Er war halt ein Trinker.‘ Ich dachte: ‚Haltet euren Mund!‘, aber gesagt habe nichts. Ich wusste von anderen Pflegekindern, wie schnell man rausfliegen kann.
Zweimal im Jahr kam das Jugendamt, dann musste ich mein Zimmer aufräumen. Der Stand meiner Entwicklung wurde schriftlich festgehalten. Da wird über dich geschrieben, als wärst du ein Objekt. Alle Kinder in diesem System sind irgendwie traumatisiert. Ich habe das nie verstanden: warum die Erwachsenen einen so im Stich lassen. Warum die so kalt sind. Warum die nicht einfach zuhören.
All die Jahre lang ist nicht viel passiert. Das Jugendamt war zufrieden. Ich machte keine Probleme. Ich kannte das ja von Pflegekindertreffen: Hier, Kinder, jetzt redet mal miteinander, ihr seid ja alle gleich gestört. Viele sind da gelandet, weil sie missbraucht und vernachlässigt worden sind. Ich war unter den Außenseitern noch mal ein Außenseiter.
Nach der Mittleren Reife, ich war Jahrgangsbeste, wollte ich Abitur machen. Das Jugendamt sah das anders: ‚Nicht besser eine Ausbildung?‘ Da hätte ich Geld an sie abführen müssen. Ich dachte mir: Jetzt erst recht.
Auf dem Gymnasium lernte ich meine zwei besten Freundinnen kennen. Meine Ersatzfamilie. Mit 19 zog ich aus. Erst nach Leipzig, Lehramt studieren, dann nach Berlin.
Als ich Praktikantin an der Schule war, meinte meine Mentorin: ,Der eine Junge da, der ist ein wenig schwierig, das ist ja ein Heimkind.‘ Solche Vorurteile machen mich sprachlos. Ich habe mich dann viel mit diesen Themen beschäftigt. Und irgendwann auch mit mir selbst.
Wie wäre das gewesen, wenn ich zu einer anderen Familie gekommen wäre?
Die haben mich da einfach hingesteckt, ohne Überprüfung, ohne Begleitung. Das ist grob fahrlässig. In meinem Fall ist nichts Schlimmes passiert, es hat halt nur an Wärme und Liebe gefehlt, an Sicherheit. Ist das nicht, was Kinder brauchen?
Ich habe mich in die Schule und in Bildung geflüchtet, in Büchern verkrochen. Ich hatte Glück. Es hätte ganz anders kommen können.
Das vorherrschende Gefühl meiner fünf Jahre in einer Pflegefamilie war: Alleinsein. Keinen Rückzugsort haben. Immer unter Strom stehen. Immer funktionieren. Sich nicht fallen lassen dürfen. Keine Fehler machen dürfen. Was sie mir genommen haben: Grundvertrauen in Erwachsene.
Vielleicht will ich deswegen auch mit Kindern arbeiten.
Ich habe mir mein Leben aufgebaut. Ich bin glücklich, wie es jetzt ist. Ich weiß, was ich erreicht habe und wo ich stehe. Ich weiß, was ich will.
Trotzdem gibt es Momente, wo ich merke: Oh, du bist halt doch irgendwie anders. Das ist schon etwas, das bleiben wird.
Es muss deutschlandweit Regeln geben, wie Pflegefamilien ausgewählt und geschult werden, wie sie begleitet werden. Es braucht vom Jugendamt unabhängige Ombudsstellen. Man darf die Herkunftsfamilie nicht vergessen. Ziel sollte immer sein, die Kinder zurückzuführen. Die brauchen feste Bezugspersonen. Wie soll ich mit jemandem über mein Innerstes reden, den ich nicht kenne?
Und generell vor allem: zuhören.
Die Kinder fragen, was sie wollen.
Ist ja irgendwie auch ihr Leben.“
Diese Recherche wurde gefördert durch ein Stipendium des Vereins für Recherche und Reportage e. V./Brost-Stiftung
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