Von Nathan Niedermeier
Im April 1989 legt der 15-jährige Stephan Ernst Feuer im Keller des Wohnhauses eines türkischen Mitschülers. Drei Jahre später sticht Ernst einem türkischen Imam auf einer Toilette im Wiesbadener Bahnhof mit einem Messer nieder und verletzt den Mann lebensgefährlich.
Ernst interessiert sich in dieser Zeit für die Partei „Die Republikaner“, wie er in der Verhandlung am Oberlandesgericht Frankfurt berichtet. Bei der Kommunalwahl 1989 im Rheingau-Taunus-Kreis, wo Ernst aufwächst, holt die Partei um den ehemaligen und mittlerweile verstorbenen SS-Mann Franz Schönhuber 10,5 Prozent. Und auch mit seiner frühen Gewaltbereitschaft und Affinität zu Waffen ist Ernst nicht alleine. Vor Gericht beschreibt er, wie die rechtsextremen Jugendlichen, mit denen er in dieser Zeit zusammen unterwegs ist, immer Messer dabeigehabt hätten. 1990 hatte ein Rechtsextremist bei Koblenz einen 17-jährigen Kurden mit einem Messer erstochen. Der Täter zählte damals zum Umfeld der rechten Hooligan-Gruppe Taunusfront.
Mit seinen rechtsextremen Freunden geht Ernst noch einen Schritt weiter, er bastelt mit ihnen an Böllern und Rohrbomben. Eine solche Rohrbombe platziert Ernst 1993 in einem Auto vor einer Unterkunft für Asylsuchende, doch der Anschlag misslingt. Es ist eine Zeit, in der in ganz Deutschland Unterkünfte für Geflüchtete von Rechtsextremen in Brand gesetzt werden. Bei einem dieser Anschläge in Mölln sterben drei türkische Frauen und Mädchen von denen zwei gerade erst 14 und 10 Jahre alt.
Zwei Jahre nach dem Rohrbombenanschlag von Ernst gründen die späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhard und Beate Zschäpe 1995 zusammen mit Kameraden wie A. K., H. G. und R. W. die Kameradschaft Jena, die sich bald dem Thüringer Heimatschutz (THS) anschließt. Angeführt wird dieser Zusammenschluss von Kameradschaften von dem V-Mann T. B., der mit dem Trio auch nach deren Untertauchen 1998 in Kontakt stand. Wie Ernst beginnen auch die Jenaer mit dem Basteln von Rohrbomben, zünden sie jedoch nicht, sondern platzieren sie als Attrappen, zum Beispiel vor dem Theaterhaus in Jena.
Zu Beginn der 1990er-Jahre bewegt sich der mutmaßliche Helfer von Ernst, Markus H., im Umfeld der rechtsextremen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP). Ein ehemaliger V-Mann beschrieb die Partei als „reine Kopie der NSDAP“, sie wird 1995 verboten.
Ein Jahr zuvor, 1994, sind zwei Parteimitglieder der FAP bei Markus H. zu Hause in Fuldatal nördlich von Kassel. Zusammen hören sie laut rechtsradikale Musik. Die Polizei rückt daraufhin an und stellt 16 Schallplatten mit rechtsextremer Musik sicher.
Einer der beiden verantwortet in dieser Zeit im rechtsextremen Thule-Netz die Internet-Mailbox „Steiner BBS“. Das Thule-Netz wird zu der Zeit genutzt, um Adressen von politischen Feinden zu sammeln, Anti-Antifa-Arbeit wie es die Rechtsextremen nennen.
Auch Stephan Ernst wird später, als er in der rechtsextremen Kameradschaftszene aktiv ist, Objekte ausspähen und Listen von Menschen anlegen, gegen die sich sein Hass richtet. Er sammelt Informationen zu Personen jüdischen Glaubens, Politikern, politisch Engagierten und Journalisten. Es ist die Zeit, in der auch der NSU seine Opfer auswählt, auskundschaftet und ermordet. Eine solche „Feindesliste“ mit 200 Personen und Adressen schickt ein V-Mann Ende der 1990er-Jahre „Zum Verwenden und Verbreiten“ an einen verdeckten Ermittler des Verfassungsschutzes und ebenfalls Anti-Antifa-Aktivisten. Mit der Überschrift „Organisationen gegen Deutschland“ wird diese Liste dann im Thule-Netz veröffentlicht.
Unter den Adressen sind solche, die später auch in den rund 10.000 Einträgen umfassenden Listen des NSU als potenzielle Anschlagsziele geführt wurden, auch die eines Kasseler Lehrers. 2003 wird auf diesen Lehrer in seinem Wohnhaus geschossen, die Kugel verfehlt nur knapp seinen Kopf. Auch auf den Listen von Ernst taucht diese Adresse auf. Ernst beteuert jedoch, dass nicht er auf den Lehrer geschossen habe und dass er den Schützen nicht kenne. Ein Bekannter von Markus H., übernimmt 1997 die Betreuung der „Thule-Netz“-Webseite. Auch danach noch bleibt die Anti-Antifa-Adressliste online.
Wie umfangreich waren die Überschneidungen der NSU-Feindeslisten und der von Ernst gesammelten Adressen? Die jüdische Gemeinde in Kassel notierten die NSU-Terroristen neben weiteren Kasseler Adressen in ihren Listen. Auf dem verschlüsselten USB-Stick mit den Feindeslisten von Ernst finden sich auch Ausspähnotizen zu der Synagoge der Gemeinde an eben jener Adresse. Solche Ausspähnotizen notierte sich auch der NSU zu potenziellen Anschlagszielen. Dort heißt es etwa über einen Kiosk in Dortmund: „Sehr gutes Objekt. Guter Sichtschutz. Person gut, aber alt“.
Auch Walter Lübcke befindet sich unter den tausenden von Namen, die der NSU sammelte. Er ist in den 1990er-Jahren viele Jahre lang Leiter einer Jugendbildungseinrichtung des Landes Thüringen in Ohrdruf im Landkreis Gotha.
Auch in der Kleinstadt Ohrdruf gab es damals eine Nazi-Zelle, wie sich Anja Zachow erinnert, die heutige Landesgeschäftsführerin der SPD Thüringen. In der Region bildet sich in dieser Zeit eine Sektion des Thüringer Heimatschutzes (THS) um P. W., der heute für die NPD im Stadtrat in Eisenach sitzt. Das „Nationale und soziale Aktionsbündnis Westthüringen“ (NSAW), wie sich die Sektion um W. nennt, soll schwarze Listen von politischen Gegnern angelegt haben und schikanierte diese mit nächtlichen Drohanrufen und E-Mails, unterschrieben waren diese mit „P.“, wie sich Zachow erinnert.
Im Sommer 2000 hatte P. W. einen Kameraden dazu angestiftet, einen Sprengstoffanschlag auf einen türkischen Imbiss in Eisenach zu verüben. Er wird deshalb zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach der Haft ist er in Ohrdruf und Umgebung aktiv. 2005 organisiert er zusammen mit NPD und THS-Kadern eine Kundgebung in der Kleinstadt. Ein Jahr zuvor hatte W. eine Veranstaltung in Gotha angemeldet, zu der auch NSU-Unterstützer W. gekommen war. Beide kennen sich über die NPD.
Die Veranstaltung in Gotha meldete W. zum Gedenken an Rudolf Heß an. Der einstige Stellvertreter von Adolf Hitler in der NSDAP wird von der Szene als Held verehrt. Bei Märschen anlässlich des Todestages des Nationalsozialisten Heß versammeln sich seit seinem Tod regelmäßig Neonazis und Rechtsextreme. Auch Stephan Ernst nimmt 2002 an einem solchen „Gedenkmarsch“ im bayrischen Wunsiedel teil, wie vor ihm auch 1996 die NSU-Terroristen Zschäpe und Mundlos.
Die Bedrohungen von rechts in Westthüringen richteten sich in den 90ern auch gegen die Junge Union, wie sich Michael Panse, heutiger Stadtrat von Erfurt, erinnert. Panse war damals Vorsitzender der JU und organisierte zusammen mit Walter Lübcke Veranstaltungen in der Jugendbildungsstätte in Ohrdruf. An Bedrohungen gegen Lübcke als Person könne er sich nicht erinnern, aber es gab auch Veranstaltungen mit Security, sagt Panse. Der städtische Jugendclub in Ohrdruf und auch ein anderer Jugendclub in der Region werden hingegen von rechten Jugendlichen brutal angegriffen.
Die Jugendbildungseinrichtung in Ohrdruf, dessen Leiter Lübcke war, wird Ende der 90er-Jahre geschlossen, damit endet seine Tätigkeit in Thüringen. 1999 wird er für die CDU in den hessischen Landtag gewählt. Sein späterer Mörder, Stephan Ernst, wird in der gleichen Zeit aus der Haft entlassen und zieht nach Kassel. Zuvor hatte er noch in der Haft mit einem abgebrochenen Stuhlbein auf einen türkischen Mitgefangenen eingeschlagen. Während der Haft hatte er auch seine Frau kennengelernt.
Im Gefängnis hatte Ernst einen Leserbrief an die rechtsextreme Zeitschrift „Nation und Europa“ geschrieben. In einem Bericht des bayerischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2000 wird die Zeitschrift als „eines der wichtigsten rechtsextremistischen Theorie- und Strategieorgane“ bezeichnet. Im Verlag der Zeitschrift arbeitete der V-Mann T. B.. Auch das NSU-Kerntrio bezieht die Broschüre, sie wird 1998 in der Bombenwerkstatt-Garage des Trios gefunden, zusammen mit sechs Rohrbomben und 1,5 kg TNT.
Eine solche Menge an Sprengstoff enthielt etwa auch die Oktoberfest-Bombe. Bei dem Anschlag 1980 sprengte sich der Rechtsextremist Gundolf Köhler am Haupteingang zum Oktoberfest in die Luft. Er riss sich und zwölf weitere Menschen in den Tod, es gab über 200 teils schwer Verletzte. Der Attentäter war Mitglied der rechtsextremen „Wehrsportgruppe H.“, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat trainierte. Zu dem Anführer der 1980 verbotenen Gruppe, hatte auch Stephan Ernst Briefkontakt.
Während 1998 in der Garage die Bomben und das TNT gefunden werden, läuft noch eine weitere Durchsuchung, und zwar bei Familie Böhnhardt. Doch aufgrund diverser desaströser Pannen der Polizei kann Uwe Böhnhardt an diesem Tag vor den Augen der Beamten mit dem Auto davonfahren und taucht ab. Zusammen mit Mundlos und Zschäpe geht er in den „Untergrund“, die ersten Jahre leben sie in Chemnitz. Insgesamt knapp 13 Jahre werden die Bombenbastler und Terroristen nicht gefunden. Zwei Jahre nach der Durchsuchung der Garagen wird der NSU seinen ersten Mord begehen, in Nürnberg bringen sie E. Ş. um.
Ende der 1990er-Jahre berichten zwei verschiedene Quellen dem hessischen Verfassungsschutz, dass in Kassel ein „nationaler Untergrund“ existiere. Dass man dabei sei, eine „Untergrundorganisation“ aufzubauen, die früher in Nordhessen ansässig gewesen sei, jetzt aus dem Osten agiere und wichtige Dinge in Kassel geregelt würden. Beide Quellen nennen D. W. in diesem Zusammenhang, der zeitweise zur polizeilichen Beobachtung mit dem Vermerk „Terrorist“ ausgeschrieben war. Er war auch stellvertretender hessischer Landesvorsitzender der neonazistischen Partei FAP, mit der auch Markus H. in Verbindung stand. Nach dem Verbot der FAP gründete W. die „Kameradschaft Gau Kurhessen“, die sich laut einem Bericht des BKA aus ehemaligen Mitgliedern der Partei zusammensetzt und in der auch Markus H. Mitglied gewesen sein soll. Die Lebensgefährtin von D. W., C. G., ist wie W. bestens vernetzt mit führenden Nazi-Kadern in ganz Deutschland. Die gebürtige Thüringerin war laut LKA Thüringen Mitglied im „Thüringer Heimatschutz“.
Im Jahr 1999 nimmt C. G. an der Hochzeitsfeier des bundesweit bekannten Neonazikaders T. H. teil. An diesem Abend, dem 12. Juni, versammelt sich bei H. das Who-is-Who der deutschen Neonaziszene. Der mittlerweile verstorbene ehemalige Bundesvorsitzende der verbotenen FAP, Friedhelm Busse, und ein Bekannter von Markus H., kommen. Der spielt inzwischen als Bassist in der „Blood and Honour“-Band „Hauptkampflinie“. Auch der zeitweise Bundesvorsitzender von „Blood and Honour“ aus Kassel kommt zu der Feier. Er war früher ebenfalls in der FAP und bewegt sich im Kreis von D. W.’s Kasseler Kameradschaft „Gau Kurhessen“. Das Unterstützernetzwerk des NSU-Kerntrios bestand zu einem großen Teil aus „Blood and Honour“ Kadern. Ein internationales Netzwerk aus Rechtsextremen und Neonazis, das in Deutschland im Jahr 2000 verboten wird. Neben „Blood and Honour“ Funktionären reist auch T. B. zusammen mit Kameraden des „Thüringer Heimatschutzes“ an. Noch ein weiterer für die Behörden wichtiger V-Mann aus Thüringen ist bei der Feier. Er war wie auch H. selbst, vor dem Verbot Führungsfunktionär bei der FAP und hatte Kontakte zum Trio.
Auch der verurteilte NSU-Unterstützer H. G. ist unter den Hochzeitsgästen. W. hatte ihn zuvor darüber informiert, dass der Kontakt zum Trio wieder hergestellt sei und Thorsten H. sich bereit erklärt habe, Unterstützung für einen Auslandsaufenthalt des Trios zu leisten, wie V-Mann T. B. dem Verfassungsschutz berichtet. G. berichtet nach seiner Festnahme 2011 in einer Vernehmung, dass H. ihm an dem Abend gesagt habe, er hätte da jemanden, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Zur Kontaktaufnahme habe H. ihm eine Telefonnummer für einen Anschluss in Südafrika gegeben. Es habe „zwei, drei Treffen“ mit ihm und H. gegeben, aber aus dem Auslandsaufenthalt sei dann nichts geworden, weil es nichts für das NSU-Trio gewesen sei.
Nur wenige Jahre später lernen sich auch Ernst und H. in Kassel persönlich kennen. Stephan Ernst findet nach der Haft sehr schnell Anschluss an die rechte Szene in Kassel. „National eingestellte“ Mitgefangene aus der Technoszene, wie es Ernst vor Gericht behauptet, hätten ihn auf Partys eingeladen, auf denen er dann auch NPD-Mitglieder kennengelernt habe. Die hätten ihn dann zu ihren Stammtischen mitgenommen. Im Oktober 2000 wird er als Mitglied in die rechtsextreme Partei aufgenommen.
Bei einem Stammtisch des Kasseler Kreisverbandes trifft Ernst im November 2001 auf den führenden NPD-Funktionär T. H., wie die Welt unter Berufung auf Unterlagen des Verfassungsschutzes berichtet. H. war erst kurz zuvor aus der Haft entlassen worden, während der er auch Briefkontakt mit H. G. hatte. Unter der Überschrift „Haftadressen 3.4.2000“ notierte H. den Namen von G. an erster Stelle in einem schwarzen Notizbuch, das im Rahmen von Durchsuchungen später bei H. gefunden wird. G., der mit H. über die Flucht des NSU-Kerntrios sprach, nahm im Sommer 2002 zweimal an Kameradschaftsabenden von H. teil. Die beiden Rechtsextremisten waren also bestens vernetzt in der Zeit, in der auch Stephan Ernst immer mehr mit H. zu tun hat. Erst ein Jahr zuvor, 2001, hatte G. dem Trio in Zwickau seinen Reisepass übergeben und 3000 Euro von den Terroristen erhalten. Im gleichen Zeitraum liefert er im Auftrag von R. W. eine Pistole an das Trio. Bis ins Jahr 2011 übergibt er dem Trio immer wieder Ausweisdokumente von ihm, über die etwa Wohnmobile für die Morde angemietet werden.
Bei einer NPD-Demonstration im Juni 2001 in Göttingen, als H. noch in Haft saß, liefen hinter dem Transparent „Freiheit für T. H.“ auch Thüringer Rechtsextreme. Sie hatten ein Transparent des „Nationalen und sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen“ dabei, der Sektion um P. W. des Thüringer Heimatschutzes. Auch Stephan Ernst nimmt mit M. S. zusammen an der Demo teil, wie Bilder des Antifaschistischen Archives Göttingen belegen.
P. W. wird 2006, wenige Monate nach dem NSU Mord in Kassel zusammen mit T. H. den Verein „Deutsch-Russische Friedensbewegung europäischen Geistes“ gründen. Bei dem Gründungstreffen war unter den neun Anwesenden neben weiteren führenden Neonazis auch D. P., wie aus dem Protokoll der Versammlung hervorgeht. Der war verantwortlich für das neonazistische Magazin „Der weiße Wolf“, das 2002 eine Grußbotschaft an den „NSU“ abdruckt, unter einem Vorwort das P. verfasst hatte, wie er Ermittlern erzählt. Auch H. trat in anderen Ausgaben des Blattes als Autor auf wie auch ein V-Mann und Freund des NSU-Kerntrios.
Einen Monat nach dem Treffen von H. und Ernst in Kassel, nimmt der Rechtsextremist M. E. an der Weihnachtsfeier von T. H.’s Kameradschaft Northeim teil. In den Jahren darauf nimmt M. E. zusammen mit seinem Zwillingsbruder, dem NSU-Unterstützer A. E., mehrfach an Veranstaltungen des rechtsextremen Vereins „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ teil. Dort wird auch Ernst Anfang der 2000er-Jahre Mitglied, wie eine Mitgliederliste des Verfassungsschutzes belegt. Zudem wurden bei Durchsuchungen nach der Ermordung Lübckes bei Ernst mehrere Exemplare der „Nordischen Zeitung“ gefunden, die von der Artgemeinschaft herausgegeben wurde.
Der Waffenbeschaffer des NSU, R. W., pflegt bis heute engen Kontakt zur „Artgemeinschaft“. Nach seiner Haftentlassung 2018 zog er nach Sachsen-Anhalt und wohnt dort mit dem heutigen Anführer des völkischen Vereins auf einem Hof. Sein Vorgänger, Jürgen Rieger, veranstaltete auf seinem Schulungszentrum in Niedersachsen von 1991 bis 1997 jährlich die „Hetendorfer Tagungswochen“, an denen 1997 auch Zschäpe teilnahm. Mitorganisator der Veranstaltung war die rechtsextreme „Artgemeinschaft“.
Die „Nordische Zeitung“ der „Artgemeinschaft“, die bei Ernst gefunden wurde, ist auch in einen Spendenbrief des NSU verwickelt ,genauso wie die Knastzeitschrift von Ernst, „Nation und Europa“. Den Spendenbrief hatte das Terror-Trio Anfang der 2000er-Jahre verschickt, um Sympathisanten und Kameraden anzuwerben. Das neonazistische Blatt „Der Weiße Wolf“ druckt daraufhin in einer Ausgabe 2002, also ganze neun Jahre vor dem öffentlichen Bekanntwerden der Terrorzelle, folgende Grußbotschaft an den NSU ab: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter...“ Die Terrorbande hatte da bereits vier Menschen umgebracht und den Anschlag in der Probsteigasse in Köln verübt. Eine Ausgabe des Blatts, in dem die Worte abgedruckt wurden, fanden Ermittler auch 1998 in der Bombenwerkstattgarage des Trios.
Bei Veranstaltungen der völkischen „Artgemeinschaft“ wurde auch das Auto des Schwiegervaters von Ernst, das auch er selbst nutzte, Anfang der 2000er-Jahre polizeilich festgestellt, wie bereits die Welt berichtet hatte. Das gleiche betrifft auch Veranstaltungen der neonazistischen Knasthilfe „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ kurz HNG. Zu den Mitgliedern zählen bekannte Rechtsterroristen, Unterstützern des NSU-Kerntrios und Bekannte von Ernst wie auch T. H.. Auch der NSU-Terrorist Mundlos ließ sich nach Angaben eines verurteilten NSU-Unterstützers regelmäßig die Gefangenenliste der HNG schicken, um die Kameraden im Knast durch Briefkontakt zu unterstützen. Zu dem im Jahr 2011 verbotenen Verein hatte auch Ernst mutmaßlicher Helfer Markus H. nach eigenen Angaben Kontakt. Ernst bestritt vor Gericht Kontakte zur HNG.
Zwischen dem Kasseler Umfeld von Stephan Ernst und den Westthüringer Nazis besteht in dieser Zeit eine enge Bindung. Im Oktober 2001 werden Kasseler Rechtsextreme aus dem Umfeld von Ernst auf einer Demo in Eisenach kurzfristig festgenommen, wie auch alle anderen Teilnehmer. Die rund 70 rechtsextremen Demonstranten hatten verbotene Parolen gerufen. Zentrale Figur auf der Demo war der NPD-Mann P. W., der die Stimmung aufheizt und eine Sitzblockade angezettelt hatte. Es ist der Mann, der später mit T. H. den oben erwähnten deutsch-russischen Verein gründet. Kurz bevor sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach selbst erschießen, soll W. Zschäpe in Eisenach Unterschlupf gewährt haben.
Mit dabei ist auf der Demo neben den anderen Kasselern auch der ehemalige V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes, B. G. und weitere rechtsextreme Bekannte von ihm und vom geständigen Lübcke-Mörder Stephan Ernst. Einer davon, Mitglied des „Thüringer Heimatschutzes“, ist mit P. W., befreundet und wird mit G. in Kassel wegen Volksverhetzung auffällig, wie Dokumente des hessischen Verfassungsschutzes belegen. Ein anderer ist Mitglied der Kameradschaft Kassel und wird bald in die thüringische Stadt Suhl ziehen, 60 km süd-östlich von Eisenach. Man unterstützt sich nicht nur gegenseitig bei Aufmärschen, auch Geburtstage und Grillpartys mit Saufgelagen veranstalten die Kasseler mit ihren Kameraden aus Thüringen.
Nach dem ersten Mord des NSU im September 2000 verüben die Terroristen im Januar 2001 einen Sprengstoffanschlag in Köln, bei der eine 19-jährige äußerst schwer verletzt wird. Die Stichflamme der Bombe verbrennt Gesicht und Unterarme schwer, Splitter bohren sich in ihren Kiefer. Als Bombe diente eine Campinggasflasche, die in einer Christstollendose versteckt war. Drei Jahre nach diesem Anschlag, im Juni 2004, explodiert in Köln eine weitere Bombe des NSU. 22 Menschen werden teilweise schwer verletzt. Die Wucht der Bombe ist so groß, dass Schaufenster und Scheiben von Wohnungen bis in einer Entfernung von 250 Metern zersplittern. Eine mit Schwarzpulver gefüllte Campinggasflasche diente als Bombe. Die hatten die Terroristen zusammen mit 800 Nägeln in einem Koffer auf dem Gepäckträger eines Fahrrades platziert.
Zwischen diesen beiden Anschlägen soll Stephan Ernst 2003 in einem Steinbruch bei Kassel zusammen mit einem Kameraden mit Propangasflasche aufgegriffen worden sein. Was die beiden mit der Gasflasche vorhatten, ist bisher nicht aufgeklärt worden. Im gleichen Jahr wird auch auf den Kasseler Lehrer geschossen, dessen Adresse später bei Ernst gefunden wurde. Wer auf den Lehrer schoss, ist bis heute nicht geklärt. Die Akten zu dem Fall und damit auch das Projektil wurden inzwischen vernichtet.
Im April ist Ernst auf einer Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in Neumünster. Mal wieder, denn schon in den Jahren zuvor hatte er in Bielefeld oder Leipzig gegen die Ausstellung protestiert. Wie vor ihm auch das NSU-Kerntrio Ende der 90er Jahre in München und Dresden. Bei Ausschreitungen in Neumünster packt er eine Frau am Hals und schleudert sie weg. Wegen Körperverletzung wird er zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf der Demo und einem anschließenden Skinhead-Konzert sind auch führende Neonazis von „Blood and Honour“ und „Combat 18“ vertreten und auch NSU-Unterstützer H. G..
In den 2000ern reist Ernst zu NPD-Veranstaltungen und Demonstrationen durchs ganze Bundesgebiet. 2003 etwa fährt er, dem Welt-Bericht zufolge, im Bus mit T. H. zu einer NPD-Demonstration in Berlin. Er bewegt sich inzwischen von der NPD hin zur rechtsextremen Kameradschaftsszene in Kassel. Darüber lernt er Markus H. kennen und auch T‘s V-Mann B G.. Er kenne T. jedoch nicht persönlich, gab Ernst vor Gericht an. Anführer der Kameradschaft Kassel, in der Ernst aktiv war, ist G‘s Stiefbruder C. W., der mit „Blood and Honour“ vernetzt ist. Seinen Wehrdienst hatte W. in Bad Salzungen in Thüringen abgeleistet und sei dort laut G. über andere rechts eingestellte Soldaten in die Szene gekommen.
Beate Zschäpe soll 2006 am gleichen Abend wie B. G. auch in der Kasseler Kneipe „Stadt Stockholm“ gewesen sein. Das behauptet jedenfalls die Betreiberin der Kneipe, G. konnte sich an diesen Vorfall nicht erinnern. An dem Abend soll es demnach zu einer Schlägerei gekommen sein, an der auch S. R., M. F. und B. T. beteiligt gewesen sein sollen. Ernst kannte neben G. auch die anderen drei Rechtsextremisten, die in der neonazistischen Kasseler Kameradschaft „Sturm 18“ organisiert waren. M. F. sagte gegenüber dem Autor, er habe “seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr” zu Stephan Ernst. Ernst war auch selbst in den 2000er-Jahren Gast in der Kneipe wo die Betreiberin Zschäpe gesehen haben will.
Im Jahr 2002 ist Ernst auf Bildern von NSU Watch zusammen mit S. R. vor dieser Kneipe zu sehen. Der gilt als wichtige Figur bei „Combat 18“ in Deutschland. Vor Gericht berichtet Ernst, dass er R. kenne, sie seien gemeinsam zu einer Demonstration gefahren. Auch der Neonazi und Gewalttäter B. T. habe ihn mal in seinem Auto zu einer Demonstration mitgenommen.
B.T. gab bei einer Vernehmung 2012 im Rahmen der Ermittlungen gegen Beate Zschäpe an, er könne Informationen zum NSU liefern. Er habe die beiden rechtsterroristischen Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt persönlich getroffen; die beiden hätten 2006 eine Geburtstagsfeier von S. R. besucht, auf der auch die Band Oidoxie gespielt habe. Zwar widerrief B. T. später seine Aussagen, doch die Ermittler erhielten Hinweise, die B. T.’s ursprüngliche Angaben teilweise stützen. So hätten Zeugen T. nach 2004 „bei diversen Anlässen“ zusammen mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gesehen.
Doch es sind nicht die einzigen Hinweise auf eine Existenz des NSU-Kerntrios in Kassel. Auch V-Mann G. sprach 2012 in einer Vernehmung des BKA von einem „Oidoxie“-Konzert in Kassel 2006. Der gebürtige Thüringer M. F. spricht in einer polizeilichen Zeugenvernehmung ebenfalls von einem Konzert anlässlich des Geburtstages von ihm und S. R. im Frühjahr 2006 bei dem er möglicherweise Böhnhardt und Mundlos gesehen habe. Vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss sprach F. erneut von einer Konzertveranstaltung im Jahr 2006 in Kassel, möglicherweise aber auch in Thüringen, bei der er Böhnhardt und Mundlos gesehen habe. Das sei zumindest sein Eindruck gewesen als er die Presseberichterstattung nach der Aufdeckung des NSU verfolgt habe. Andere Zeugenaussagen widersprechen den Aussagen von B. T.. Der ehemalige V-Mann und Bekannte von Ernst, B. G., bezeichnete F. in einer Vernehmung vor dem hessischen Untersuchungsausschuss 2016 als seinen „früheren besten Freund“, er steht wie auch G. und H. auf der eingangs erwähnten NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft.
M. F. war wie auch S. R. in der „Oidoxie Streetfighting Crew“ aktiv. Eine militante und konspirative Gruppe im Umfeld der Dortmunder „Combat 18“ Band „Oidoxie“. Anhand der Saalschutztruppe zeigen sich die Verbindungen der Kasseler rechtsextremen Szene nach Dortmund. Dort ermordet der NSU am 4. April 2006 M. K..
Zwei Tage später, am 6. April, erreicht die Mordserie des NSU Kassel. Der 21-jährige H. Y. wird in seinem Internetcafé erschossen, er ist das 9. Todesopfer. T., der V-Mann-Führer G‘s, ist nur wenige Meter entfernt zum Zeitpunkt des Mordes. Er meldet sich nicht als Zeuge bei der Polizei und gilt auch deshalb zeitweise als Tatverdächtiger. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, doch nach wie vor ist T‘s Rolle bei dem Mord nicht aufgeklärt und wird deshalb auch im kommenden Lübcke-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag eine Rolle spielen.
Wie sehr war T. in der rechtsextremen Szene in Kassel im Gespräch? Neben Ernst, der mit dem V-Mann G. über T. gesprochen haben soll, gab auch der rechtsextreme Gewalttäter B. T., den Ernst kannte, im NSU-Prozess an, T. sei ihm aus seiner Zeit bei der Kasseler Kameradschaft „Sturm 18“ bekannt.
In zwei Geheimakten des hessischen Verfassungsschutzes fasst das Amt Erkenntnisse zu Aktivitäten der hessischen Neonaziszene von 1992 bis Juni 2012 und ihre Verbindungen zum NSU zusammen. In einem dieser Berichte aus dem Jahr 2013 taucht der Name A. T. an zwei Stellen auf, in dem Bericht aus dem Jahr 2014 sogar an sechs Stellen.
Auch der Name von Stephan Ernst wird in dem Papier von 2013 genannt, an elf Stellen, um genau zu sein. Laut dem Innenexperten der hessischen Grünen-Landtagsfraktion, Jürgen Frömmrich, stammen die Namensnennungen aus den Jahren 1993 bis 2004. Frömmrich konnte das Dokument einsehen. Der Name G., T.‘s V-Mann, steht sogar an 19 Stellen in dem Dokument, das als Schlüssel zur Aufklärung des NSU-Mordes in Kassel gilt. Trotzdem soll es noch 30 Jahre geheim bleiben. Eine Petition forderte deshalb die Akten jetzt freizugeben. Die Zeitung Welt hatte gerichtlich erstritten, dass die Behörde die Namensnennungen in den Geheimberichten mitteilen muss.
Ernsts mutmaßlicher Helfer Markus H. taucht ebenfalls in den Mordermittlungen zum Kasseler NSU-Mord auf. Er wohnte 2006 im Haus der Familie K., mit deren Sohn H., das Mordopfer, in der Türkei zusammen im Urlaub gewesen war. Wenige Wochen nach der Ermordung von H. Y. wird H. zum Mordfall vernommen. Die Ermittler waren auf ihn gekommen, weil er mehrfach eine speziell eingerichtete Webseite des BKA zur damals noch ungeklärten sogenannten „Ceska-Mordserie“ - benannt nach der verwendeten Mordwaffe - aufgerufen hatte. Gerade mal vier Fragen werden Markus H. gestellt und dass obwohl der sogar berichtet, Halit Yozgat, das Mordopfer, persönlich getroffen zu haben. In dem Vernehmungsprotokoll findet sich an keiner Stelle ein Hinweis auf H.’s rechte Gesinnung. Dabei war Markus H. erst kurz zuvor noch polizeilich aufgefallen, weil er in einer Gaststätte in Kassel den Hitlergruß gezeigt hatte.
Auch C. G., die G. persönlich kannte und auf H‘s Hochzeit zu Gast war, berichtete vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss, das Internetcafé Ende 2005 dreimal aus dem offenen Strafvollzug heraus besucht zu haben. Zusammen mit einer Mitgefangenen will sie das Internetcafé besucht haben, diese bestritt jedoch in einer Vernehmung jemals in dem Café gewesen zu sein. Die Mitgefangene sagte jedoch aus, dass sie in direkter Nähe des Internetcafés gewohnt habe und auch während des offenen Strafvollzugs mehrfach mit C. G. in der Wohnung gewesen sein. Ein ehemaliger V-Mann mit Kontakten sowohl zum Trio also auch zu G., ist sich sicher, dass C. G. auch Kontakt zu den NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt hatte, was sie jedoch bestreitet.
Ein Jahr nachdem sich H. mit dem ehemaligen V-Mann T. B. möglicherweise über das NSU-Kerntrio unterhalten hatte, marschiert T. H. im November 2008 bei einem NPD-Aufmarsch in Fulda mit. Weitere Teilnehmer sind auch Markus H. und ein A. S., der später auch mit Markus H. und Ernst zusammen zu einer AfD-Demonstration fahren wird. Der spätere Bekannte von Ernst, A. S., ist 2008 bei den „Freien Kräften Schwalm-Eder“ aktiv. Einer Kameradschaft, gegen die bis 2011 allein 97 Ermittlungen, auch wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, liefen. 2008 stehen ihre Mitglieder besonders durch zwei brutale Aktionen in der Öffentlichkeit: Einmal überfällt K. S. zusammen mit Kameraden ein Zeltlager der Jugendorganisation „Linksjugend, solid“ von der Partei DIE LINKE. Mit einem Klappspaten und einer leeren Bierflasche schlägt er früh morgens auf Jugendliche ein, die in ihrem Zelt schlafen. Eine 13-Jährige verletzt er lebensbedrohlich. In dem anschließenden Strafverfahren wird Kevin S. von dem Anwalt Dirk Waldschmidt vertreten, der auch Stephan Ernst zeitweise vertrat.
K. S. pflegte ab 2007 engeren Kontakt zu den NSU-Unterstützern R. W. und A. K.. Vor dem Überfall auf das Zeltlager hatte er eine Zeit lang in deren sogenannten „Braunen Haus“ in Jena gewohnt, einem damals bundesweit bedeutsamen Vernetzungsort der Neonazi-Szene. Auch K. S. steht auf der eingangs beschriebenen NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft.
Bei Durchsuchungen nach den brutalen Aktionen der „Freien Kräfte Schwalm-Eder“ werden bei A. S. Anleitungen zum Bombenbau gefunden. Auch auf Ernsts Computer fanden sich bei den Durchsuchungen nach dem Mord an Lübcke solche Anleitungen. Laut H.’s ehemaliger Lebensgefährtin habe dieser auch selbst Sprengstoff hergestellt und Probesprengungen durchgeführt. Auch habe er ihr gegenüber geäußert, dass, sollte er schwer erkranken und daran sterben müssen, er sich vorher einen Sprengstoffgürtel basteln würde um „so viele Kanaken wie möglich“ mit in den Tod zu nehmen.
Der Kasseler Rechtsextremist M. S., ein enger Weggefährte von Ernst, hat ebenfalls Kontakte in den Schwalm-Eder-Kreis. Mit ihm sind Ernst und Markus H. am 14. Februar 2009 bei einem rechtsextremen Aufmarsch in Dresden, bei dem die Erinnerung an die Alliierten-Bombardements auf Dresden benutzt werden, um geschichtsrevisionistische Erzählungen zur Nazi-Diktatur zu verbreiten. Am 1. Mai im selben Jahr überfallen sie zusammen mit hunderten weiteren Rechtsextremen eine Demo des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Dortmund. Mitinitiator ist S. H., der früher auch beim Thüringer Heimatschutz aktiv war. Ernst wirft bei den Ausschreitungen einen Stein auf einen Motorradpolizisten, der sich aber noch in Sicherheit bringen kann. Er wird dafür 2010 zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Markus H. ist 2009 mehrfach auf NPD-Versammlungen. Bei einem Stammtisch des Kreisverbands Waldeck-Schwalm/Eder bezeichnete er sich als „Führer der Autonomen Nationalen“, wie aus Unterlagen der Bundesanwaltschaft hervorgeht. Auf einem Stammtisch des NPD-Kreisverbands Nordhessen fordert er im gleichen Jahr mehr Aktivitäten im Schwalm-Eder-Kreis, dort hatte H. auch seinen Wehrdienst abgeleistet. In dieser Zeit dürften sich auch Markus H. und A. S. kennengelernt haben, wie auch A. S. vor Gericht angab. Auch Ernst besuchte nach Erkenntnissen des hessischen Verfassungsschutzes Versammlungen der NPD Schwalm-Eder. S., der ebenfalls bei der rechtsextremen Partei im Schwalm-Eder-Kreis aktiv war, will Ernst jedoch erst 2017 kennengelernt haben. Zwischen S. und H. hingegen entwickelt sich bereits 2009 eine enge Freundschaft. Die beiden fahren nicht nur gemeinsam zu rechten Demonstrationen, sondern machen auch zusammen Urlaub in Holland. Am Morgen nach der Ermordung Lübckes werden sie sich in Kassel treffen.
Zusammen mit Kadern des neonazistischen „Freien Widerstands Kassel“, mit denen H. und Ernst auch nach Dresden und Dortmund gereist waren, nimmt Ernst im Juni 2011 an einer von H. organisierten Sonnenwendfeier in Thüringen teil. Unter den Gästen ist neben M. S. auch der Kasseler D. B., der wenige Monate später, als der NSU auffliegt, eine Art Solidaritätsbekundung mit der rechtsextremen Terrorzelle auf seine Facebook-Seite gesetzt haben soll.
Auf einem Foto des hessischen Verfassungsschutzes von der Sonnenwendfeier 2011 ist Ernst zu sehen, wie er auch vor Gericht einräumt. Brisant ist das deshalb, weil der Verfassungsschutz Ernst zwar 2009 noch als “brandgefährlich” einstufte, dann aber 2015 seine Beobachtung einstellte weil dem Amt keine neuen rechtsextremistischen Erkentnissen vorgelegen hätten. Seitdem galt er beim Verfassungsschutz also als “abgekühlt”.
Als „vollkommen irreleitendes Wort“ bezeichnet das die Linken-Politikerin Martina Renner. Es verkenne, dass es „vollkommene Normalität“ sei in der Szene, dass sich das Engagement von Rechtsextremen mit zunehmendem Alter und veränderten Lebensumständen wie etwa Familie ändere, das aber keinesfalls ein Indiz dafür sei, dass sie sich von der Szene abgewendet hätten.
Tatsächlich berichtet auch Ernst vor Gericht, er habe sich nach dem Angriff in Dortmund 2009 angeblich von der Szene gelöst. Einer der Gründe sei gewesen, dass es Anfeindungen gegen ihn und seine Familie gegeben hätte. Kameraden hätten gesagt, seine Frau sei „nicht deutsch genug“. Er habe in der Zeit auch mit Angstzuständen und Panikattacken zu kämpfen gehabt und eine Therapie begonnen. Wenn er auf Feiern von rechtsradikalen Freunden war, dann nur, „um mal Leute zu haben mit denen man reden konnte“, behauptet Ernst vor Gericht. Einer dieser rechtsradikalen Freunde ist M. S., den Ernst auch nach 2009 ab und zu getroffen hat, einmal in Hannover, ein anderes Mal auf einem Flohmarkt, wie er vor Gericht erzählt. Sein „Ausstieg“ soll in der Therapie kein Thema gewesen sein. Dafür aber wird die Therapie bei der Verhandlung wegen der Tat in Dortmund thematisiert. Die Verhandlung ist 2010, ein Jahr nach seinem angeblichen Ausstieg.
2011, im gleichen Jahr wie die Sonnenwendfeier von H., meldet sich Ernst im Mai im Schützenverein „1952 Sandershausen“ an, auf Initiative von H., wie er den Ermittlern später erzählen wird. „Über einen Kollegen mit Bogenschießen angefangen“, notiert auch seine damalige Therapeutin in ihrem letzten Eintrag der Therapie im Frühjahr 2011. H. ist da bereits drei Jahre Mitglied in dem Schützenverein.
Am 4. November 2011 erschießen sich Böhnhardt und Mundlos in einem Wohnmobil in Eisenach nach einem Banküberfall. Beate Zschäpe zündet am gleichen Tag die Wohnung der drei in Zwickau an und stellt sich am 8. November der Polizei.
Das Auffliegen des NSU versetzt 2011 die ganze Bundesrepublik in einen Schockzustand. Die Öffentlichkeit erfährt von einer rechtsextremen Terrorzelle, die über ein Jahrzehnt in Deutschland morden und Banken ausrauben konnte. Und sie erfährt in der folgenden Zeit von dem Versagen, den Pannen sowie dem Sabotieren der Ermittlungen und der Aufklärung von Sicherheitsbehörden. Eine Zeit lang kommen täglich neue ungeheuerliche Informationen ans Licht und der NSU-Komplex wächst sich aus zu einer der größten Staatsaffären der Bundesrepublik. Vorher standen Rechtsextreme unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, aber das war schief gegangen. Jetzt schauten Medien und Öffentlichkeit auf die Nazis und Rechtsextremen im Osten wie im ganzen Land.
Über Ernst und Markus H.’s Einbindung in rechtsextreme Netzwerke ist in den Jahren unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU wenig bekannt. Klar ist aber, dass sie sich, wie auch A. S., mehr und mehr der AfD zuwenden und an Waffen trainieren.
2015 findet die Bürgerversammlung in Lohfelden statt, bei der Lübcke über die dort geplante Unterbringung von Geflüchteten informiert und die Sätze fallen: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten und wer diese Werte nicht vertritt, der kann dieses Land jederzeit verlassen.“ H. und Ernst sind im Publikum. H. filmt die Szene und stellt sie anschließend online. Das Video bereitet den Nährboden für den Hass gegen Lübcke, der sich im Netz entfaltet. Auch die ehemalige CDU-Bundestagsabgeornete Erika Steinbach trägt mit Postings dazu bei, Morddrohungen gegen Walter Lübcke unter einem dieser Facebook-Post vom Februar 2019 bleiben auch nach dem Mord noch online.
Nach eigener Aussage beginnt Ernst in der Zeit nach der Bürgerversammlung damit, Informationen über Lübcke zu recherchieren, wie er es zuvor mit Personen jüdischen Glaubens, Politikern, politisch Engagierten und Journalisten getan hatte. Das habe er H. auch erzählt und beide seien sich einig gewesen, dass man „etwas machen“ müsse, erzählt Ernst später den Ermittlern.
Sie beginnen in dieser Zeit nach den Angaben von Ernst, neben den Schießtrainings im Schützenverein auch im Wald zusammen an legal und illegal erworbenen Waffen zu trainieren. Dabei kommt demnach auch die spätere Tatwaffe zum Einsatz, die Ernst dem Waffenhändler E. J. abgekauft haben soll. Den Kontakt zum Waffenhändler soll zuvor H. hergestellt haben. Ernst kauft neben der Tatwaffe noch weitere Revolver, Pistolen und auch eine Maschinenpistole, die später in seinem Waffenversteck auf dem Gelände seines Arbeitgebers ausgegraben werden. Einige der illegal bei J. erworbenen Waffen verkauft Ernst laut Bundesanwaltschaft gewinnbringend weiter.
Auch H. soll Ernst Munition und eine Schrotflinte verkauft haben. Ein anderes Gewehr, das H. kauft, wird von Ernst bezahlt, er schießt auch immer wieder damit, aber H. trägt es laut Bundesanwaltschaft zum Schein auf seiner Waffenbesitzkarte ein. Bei den gemeinsamen Schießtrainings soll H. für die Munition gesorgt haben, die er selbst herstellte. Dafür nutzte er eine Wiederladepresse, die bei Durchsuchungen in seinem Arbeitszimmer gefunden wurde und mit der er bereits verschossene Patronenhülsen erneut mit Munition beladen kann.
Ebenfalls sichergestellt werden diverse Schusswaffen, darunter auch eine nachträglich unbrauchbar gemachte Maschinenpistole. H. besaß für diese Waffe keine Genehmigung und wurde auch wegen dieses Waffendeliktes von der Bundesanwaltschaft angeklagt. Ein LKA-Beamte konnte die Maschinenpistole in wenigen Stunden wieder funktionsfähig machen und vollautomatische Schüsse abgeben. Nach Recherchen des ZDF soll H. auch mit Waffenhändlern Geschäfte gemacht haben, die auf Adresslisten des NSU standen.
Wie auch Verfassungsschützer T. und Kader der inzwischen verbotenen Kampfgruppe „Combat 18“ machen auch H. und Ernst Schießtrainings in Tschechien. H. habe dort auf Flohmärkten Kontakte wegen Waffen und Drogen knüpfen wollen, wie Ernst vor Gericht angibt.
Dass der Verfassungsschutz von alledem nichts mitbekam, bezeichnete Holger Matt, Anwalt der Familie Lübcke, als „Komplettversagen der Verfassungsschutzbehörden“ in seinem Schlussplädoyer vor dem Oberlandesgericht im Januar.
Im Jahr 2016 soll Ernst laut Anklage A. I. niedergestochen haben. Der war gerade erst aus dem Irak nach Deutschland geflohen und lebte in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete im Kasseler Stadtteil Lohfelden, über die Lübcke bei der Bürgerversammlung berichtet hatte. „Ich habe mein Land verlassen um Schutz zu finden, aber hier wurde mein Leben zerstört“, wird A. I. später vor Gericht sagen. Nach der Tat interessiert sich die Polizei auch für Stephan Ernst, weil er als rechtsmotivierter Gewalttäter polizeibekannt war. Eine Hausdurchsuchung fand jedoch laut A. I.’s Anwalt, Alexander Hoffmann, nicht statt. Der Anwalt sieht darin eine vertane Chance Ernst schon damals als Täter zu überführen. „Dann wäre der Mord an Herrn Lübcke nicht möglich gewesen“, sagte Hoffmann gegenüber dem Autor.
Viele Indizien sprechen dafür, dass Ernst der Angreifer gewesen sein könnte. Bei Durchsuchungen im Juli 2019 in seinem Wohnhaus fanden die Ermittler ein Messer, das eine sehr seltene DNA-Spur aufweist, wie sie auch A. I. besitzt. Ernst wohnte in der Nähe des Tatortes. Ein Fahrrad, das bei ihm gefunden wurde, passt zu dem Fahrrad des Täters, das eine Überwachungskamera in Tatortnähe aufgezeichnet hatte. Der Tatort liegt auf dem Weg zur Arbeit, den Ernst täglich per Rad zurücklegte. In seiner ersten Vernehmung am 25. Juni 2019 hatte Ernst den Ermittlern erzählt, er sei am 6. Januar völlig aufgebracht durch Kassel gelaufen und habe einem ihm entgegenkommenden Ausländer gesagt: „Euch müsse man den Hals aufschneiden“. Der 6. Januar war der Tag, an dem A. I. niedergestochen wurde. Ernst streitet die Tat bis heute ab.
Auf einen Beweisantrag der Fraktion DIE LINKE hin wurde eine Mitarbeiterin des hessischen Verfassungsschutzes wenige Wochen vor dem Anschlag auf A. I. in einer geheimen Sitzung des NSU-Untersuchungsausschuss zu Stephan Ernst befragt. Der Grund war, dass die Mitarbeiterin 2009 in einem Vermerk über die rechtsradikale Szene in Nordhessen auch „Stephan Ernst“ aufgeführt hatte. Neben seinem Namen prangte in roter Schrift die Einschätzung „brandgefährlich“, geschrieben von dem damaligen Leiter des Amtes. Der Autor konnte das Protokoll der geheimen Sitzung einsehen.
Als die Zeugin in der geheimen Sitzung des Ausschusses dazu befragt wurde, wie sie selbst Stephan Ernst eingeschätzt hätte, antwortete sie, dass man ihn weiter im Auge behalten sollte. Doch genau das passierte dann nicht wie wir inzwischen wissen, sondern seine Beobachtung wird 2015 eingestellt. So können Ernst und H. in dieser Zeit ungestört mit ihren Schusswaffen trainieren, Lübcke ausspionieren und die Tat vorbereiten.
Ernst fühlt sich in der Zeit nicht nur zur AfD hingezogen. Zwischen 2016 und 2019 überweist er auch dreimal je 100 Euro an die „Identitären“. Eine Gruppe Rechtsextremer, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Bei Durchsuchungen finden die Ermittler im Haus von Ernst auch einen Artikel der BILD-Zeitung über das Attentat in Christchurch. Ein Rechtsextremist hatte 2019 in der neuseeländischen Stadt einen Anschlag auf zwei Moscheen verübt und dabei 51 Menschen getötet und über 50 weitere verletzt. Der Attentäter hatte an den Kopf der „Identitären“, den Rechtsextremisten M. S., 1500 Euro überwiesen, es entstand dadurch ein E-Mail-Wechsel.
Bereits 2017 beginnt Ernst mit konkreten Vorbereitungen seiner Mordtat. Er späht die Lebensumstände seines späteren Opfers aus und fährt dazu auch wiederholt zum Wohnhaus Lübckes, mindestens einmal auch zusammen mit H., nach Angaben von Ernst. Gestützt werden diese durch Angaben des Sohnes von Walter Lübcke, der im Frühjahr 2018 zwei Personen gesehen hatte, deren Beschreibung auf die von Ernst und H. passen würde. H. und Ernst besuchen währenddessen weiter AfD-Veranstaltungen, darunter auch die gewaltvolle Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018. Sie gilt als Schulterschluss der AfD mit gewaltbereiten Hooligans und Rechtsextremen. Es war einer der wichtigsten Momente auf dem Weg zu dem Entschluss, Lübcke zu töten, wird Ernst später den Ermittlern berichten.
Auf der AfD-Demonstration in Chemnitz und einer weiteren AfD-Demo in Erfurt sind Ernst und H. mit A. S. unterwegs. Mit ihm kommunizieren sie seit Dezember 2017 verschlüsselt über die App Threema. Später, nach dem, Mord werden alle drei ihre Chatinhalte löschen. Drehte sich die Kommunikation auch um den Mord? Es sei darin auch um Lübcke gegangen, sagte Ernst vor Gericht, ruderte nach einer Besprechung mit seinem Anwalt jedoch zurück und sagte aus, dass die Chats unpolitisch gewesen und Lübcke nie Thema gewesen sei. Sollte S. im Vorfeld von der Tat gewusst haben, wäre die Frage, ob hinter dem Mord eine terroristische Vereinigung steht. Für die braucht es nach dem Strafgesetzbuch mindestens drei Personen.
Dass es Mitwisser bei der Mordtat gab, darauf deuten auch Google-Anfragen in der Tatnacht hin. Wie das ZDF recherchierte, gab es bereits vor und auch kurz nach der Tat einen sprunghaften Anstieg von Google-Anfragen zu dem Begriff „Lübcke“ etwa in Kombination mit „Kopfschuss“ zu Zeitpunkten als der Mord noch nicht öffentlich bekannt war. Das alle Google-Anfragen von Ernst oder H. selbst kamen, ist nahezu ausgeschlossen, da sie aus unterschiedlichen Bundesländern stammen.
Als Markus H. nach seiner Verhaftung im Juni 2019 dem Haftrichter vorgeführt wurde und dieser den Haftbefehl verlas, entgegnete H. daraufhin: „Wie? Nur Beihilfe zum Mord“ und „Was ist mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung?“ Zuvor hatte H. dem verblüfften Haftrichter noch ausgerichtet, er sei vor wenigen Monaten wegen seiner Waffenbesitzkarte vom Verfassungsschutz befragt worden und da sei nichts zu beanstanden gewesen, wie der zuständige Richter am Bundesgerichtshof später vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt berichten wird.
H. nahm A. S. Berichten zufolge auch mit zu Schießübungen. Die beiden telefonierten am Tattag miteinander und trafen sich tags darauf, am 2. Juni, in Kassel. In seiner Vernehmung vor Gericht schildert S., wie sich H. und er am Tag zuvor am Telefon zu dem Treffen verabredet hätten. Sie hätten dann am 2. Juni zusammen einen Flohmarkt auf einem Parkplatz bei IKEA mit einem Parkhaus daneben besucht. Stimmt die Beschreibung, liegt dieser Parkplatz nur wenige Meter von Ernsts Arbeitsstelle entfernt. Dort wo Ernst während der Nachtschicht die Tatwaffe vergräbt. An dem Abend schickt H. an S. einen Link zu einem Presseartikel über den Mord.
In der Nacht zuvor hatte Ernst Walter Lübcke durch einen Schuss in den Kopf aus nächster Nähe getötet. Die Tat war professionell und über mehrere Jahre vorbereitet, es gab kein Bekennerschreiben. Auch das Vorgehen, die Opfer mit einem Schuss in den Kopf zu töten, ähnelt dem des NSU. Die NSU-Terroristen erschossen ihre Opfer jedoch nicht zu Hause, sondern an ihrem Arbeitsplatz: im Kiosk, am Blumenstand, im Imbiss, häufig mitten in der Stadt und am helllichten Tag.
Bei Ernst wird nach dem Mord an Lübcke ein Band der Schriftenreihe „Eine Bewegung in Waffen“ sichergestellt. Eine Anleitung zum Guerillakrieg, die sich wie ein Drehbuch für den NSU-Terror liest, wie mehrere Zeugen und Sachverständige vor NSU-Untersuchungsausschüssen aussagten. Zum Kauf angeboten wurde sie in Deutschland über die neonazistische Zeitschrift „NS-Kampfruf“ der US-amerikanischen Neonazi-Organisation „NSDAP-AO“ die in Deutschland verboten ist. Das Blatt hatte Markus H. Ende der 90er bezogen, weshalb gegen ihn wegen „Einfuhr von Propagandamaterial“ ermittelt wurde.
Auch in einer Garage des NSU-Kerntrios wird eine Ausgabe dieser Zeitschrift aus dem Jahr 1998 von Ermittlern gefunden, in der ein Auszug aus dem Pamphlet abgedruckt ist. Das Bundesamt für Verfassungsschutz notiert dazu: „Es ist von einer starken ideologischen Beeinflussung der späteren NSU-Mitglieder durch die Publikationen und die Vorgehensweise der „NSDAP/AO“ auszugehen.“
Es gibt aber auch Unterschiede: Ernst führte nach außen ein bürgerliches Leben mit seiner Familie, er war anders als der NSU nicht auf ein konspiratives Netzwerk angewiesen, das im Untergrund unterstütze, damit die Terroristen nicht aufflogen. Er hatte seinen Schützenverein und seine Arbeitskollegen, die alle seine rechtsextremen Ansichten geteilt hätten, wie Ernst vor Gericht berichtete und die der Anwalt von A. I. in seinem Plädoyer als „Betriebskampfgruppe” bezeichnete.
Der Mord an Walter Lübcke steht auch im Kontext einer „rassistischen Mobilisierung der bürgerlichen Mitte“, wie es Martina Renner nennt. „Man hätte aus der Analyse zum NSU sehen können, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen, also inwieweit Minderheiten oder Personen ausgemacht werden, die aus diesem Land vertrieben werden müssen oder umgebracht werden sollen, dass diese Debatte im Kontext steht mit der Entstehung rechtsterroristischer Strukturen“, sagt Renner.
Das NSU-Kerntrio konnte auch deshalb unerkannt Morden und Banken ausrauben, weil Unterstützer falsche Pässe, die Tatwaffe und Spendengelder lieferten. Nur wenige dieser Helfer wurden vor Gericht verurteilt. Bis heute fehlt es an Aufklärung darüber, wie groß das NSU-Netzwerk tatsächlich war, ob es weitere Zellen gab und Taten, die dem NSU bislang nicht zugeordnet wurden.
„Wenn man dieses Netzwerk, diese Strukturen nicht richtig analysiert und benennt, dann kann man die Gefahren, die aus diesen Strukturen erwachsen, nicht richtig einschätzen,“ sagt Martina Renner.
Ernst handelte nicht alleine, er war kein Einzeltäter. Es gilt, weiter aufzuklären, wer ihn bei dem Mord an Lübcke unterstützt hat und in welche rechtsextremen Netzwerke er eingebunden war, die auch mit dem NSU verbunden waren. Nach dem Ende des Gerichtsprozesses liegt diese Aufgabe beim Untersuchungsausschuss des Landtages in Hessen.
Diese Recherche wurde gefördert durch ein Stipendium des Vereins für Recherche und Reportage e.V./Brost-Stiftung
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