Von dem Abend, an dem Arne Susanne würgt, bis zu seinem ersten Termin vergehen mehr als sechs Wochen. Bis dahin halten sie durch, harren nebeneinander aus. Keine Umarmung, keine Berührung. Wenn sie sprechen, informieren sie bloß einander. Bedacht darauf alles zu vermeiden, was im Streit enden kann. “Als hätte man eine Phiole Nitroglycerin in der Tasche und niemand weiß, wann sie explodiert”, sagt Arne.
Was geht einem vor so einem Termin durch den Kopf, wenn man weiß: Ich gehe dahin, weil ich meine Frau gewürgt habe? Bei Arne sind es drei Dinge: Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Angst. Er wundert sich, dass ihm das passiert ist, dass er so die Kontrolle verlieren konnte. Er weiß nicht, was er tun kann, damit ihm das nie wieder passiert. Und ob der Berater ihm helfen kann, ob er ihn verurteilt. Und was, wenn Susanne ihn doch noch anzeigt?
Diese Gedanken beschäftigen die meisten Männer, die zu Volker Feix kommen. Bevor die eigentliche Arbeit beginnt, macht Feix deutlich, was hier nicht zur Diskussion steht: Es handelt sich bei der Gewalt um Straftaten. Es gibt keinen Platz für Rechtfertigungen. Sie hätten ihre Frau gewarnt, erzählen ihm manche Klienten. Sie hätten ihr doch gesagt, dass sie dieses oder jenes nicht tun soll. Nichts davon lässt Volker Feix gelten: “Selbst wenn Sie den Teufel zu Hause haben, dürfen Sie den Teufel nicht schlagen.” Eine Sorge kann er den Männern aber von Beginn an nehmen: Er verurteilt die Tat, nicht den Täter.
Über seine Tat muss Arne jetzt sprechen. Gemeinsam versuchen sie den Streit zu rekonstruieren, vom ersten Wort bis zum Griff an den Hals. Herr Feix zeigt Arne, an wie vielen Punkten er den Streit hätte verlassen können, dass er immer eine Wahl hatte. Nochmal durch den Abend zu gehen, ist schmerzhaft für ihn. “Wenn man die Beziehung, in der man lebt, nicht verlassen möchte, dann muss man dadurch. Es geht nicht anders”, sagt Arne.
Sie sprechen über Arnes Verhältnis zu Gewalt. Schlägereien in der Vergangenheit? Fäuste statt Worte? Vielleicht ein gewalttätiger Vater? Doch bis auf zwei Mal Prügeln auf dem Pausenhof hat er nichts zu berichten. Und sonst irgendwelche Kontrollverluste? Zu viel gesoffen, Filmriss? Ein einziges Mal in seinem Leben. Klingt alles nicht nach einem notorischen Schläger. In den Sitzungen werden sie vor allem zusammen in seiner Persönlichkeit graben, die Streits sezieren und den Weg zur Gewalt aufdröseln.
Arne will Susanne endlich wieder näherkommen, er will das Nebeneinandersein beenden, am liebsten sofort. Feix warnt ihn, das liege nicht in seiner Hand. Arne muss geduldig sein, soll nichts einfordern, keine Umarmung, keinen Kuss. Er soll einfach da sein.
Am 5. Mai steht Arnes dritter Termin in ihrem Kalender. Als er abends nach Hause kommt, fragt Susanne wie immer, wie es war. Sie stehen noch im Flur, als er sie in den Arm nehmen kann, als sie es zulassen kann. Nach drei Monaten. Er hat einen Kloß im Hals. Sie weint vor Erleichterung. In ihren Kalender schreiben sie: „Arne und Susanne treten in Verbindung“.
Bis hierhin sind sie vielleicht nur wegen des Kindes zusammengeblieben. Jetzt fühlen sie, dass sie noch immer mehr verbindet. Dass nicht alles kaputt ist und sie zusammen darum kämpfen wollen. Die Beziehung soll bleiben, die Gewalt soll gehen.
Zunächst trifft sich Gisela Steinhauser allein mit Susanne Lange, Volker Feix hat Sitzungen mit Arne Roth. Die beiden Therapeuten besprechen sich nach jedem Termin und sie sind es auch, die beschließen, wann ein Paar so weit ist, dass sie sich zu viert zusammensetzen. “Voraussetzung ist die alleinige Verantwortungsübernahme des Mannes für die Gewalttat”, sagt Volker Feix. “Nicht für die Konflikte allein, die betrachten wir gemeinsam. Der Patient ist nicht der Mann oder die Frau, der Patient ist die Beziehung.” Das heißt auch, danach zu fragen, wer was zum Streit beigetragen hat, bevor es körperlich eskaliert ist. Eine Frau, die zusammen mit dem Partner Konflikte lösen will, muss ihren Beitrag sehen. Doch der Mann, der sie schlägt, weil das Essen versalzen ist, ist kein Mann, der Verantwortung für die Taten übernimmt. Denn solange es ein Weil gibt, glaubt der Mann, er habe einen Grund. Wo Gewalt das Fundament einer Beziehung ist, ist eine Paarberatung zu viert sinnlos. “Die Menschen müssen beratungsfähig sein. Einsichtig und bereit, an der Beziehung zu arbeiten”, sagt Gisela Steinhauser.
Als Susanne und Arne sich das erste Mal zu viert mit Frau Steinhauser und Herrn Feix treffen, malen die Therapeuten eine Spirale auf. Wo sehen sie Ihre Beziehung? Im unteren Drittel, meinen beide. Gemeinsam überlegen sie, wie sie es weiter nach oben schaffen können.
In den gemeinsamen Terminen sprechen sie über ihre Konflikte, über die Ausfahrten, die sie nicht gesehen haben, wenn sie wieder einmal bis zur Erschöpfung stritten. Sie haben gekämpft um zu gewinnen, wie Gegner in einem Duell. Hier lernen sie den anderen nicht mehr ins Visier zu nehmen. Sie wissen zu gut, wo sie einander treffen können.
Nicht jede Beziehung hat eine Chance auf Zukunft. Manchmal ist es besser zu gehen, das gilt auch für die Paare, die Steinhauser und Feix begleiten. Eine erfolgreiche Paarberatung kann für die beiden am Ende auch bedeuten: Erfolgreich getrennt. Viele Frauen erdulden jahrelang ihre Partner und übernehmen deren Schuld und Verantwortung. “Da muss man schauen, inwieweit die Frau auch mal die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen muss”, sagt Gisela Steinhauser.
Susannes Einzeltermine endeten mit dem Beginn der Gespräche zu viert. “Es gab so viele Punkte, da lag einfach das To-do bei Arne”, sagt sie. Er trifft sich weiterhin mit Volker Feix. Die Termine zu viert werden seltener. Aus regelmäßigen Sitzungen werden “TÜV-Termine”, wie die Therapeuten sagen. Nach gut einem Jahr haben Frau Steinhauser und Herr Feix das Gefühl: Bald können die beiden alleine laufen. Und dann streiten sich Arne und Susanne vor den Therapeuten. TÜV nicht bestanden.
Heute streiten sie immer noch. Aber sie streiten anders. Susanne sagt: “Ich bin so Eine, die irgendwie immer dran blieb und sich in so eine Situation verbissen hat.” Heute versuche sie im Streit “einfach mal die Fresse zu halten”. Wenn sie streiten, will er immer noch gehen. Sie lässt ihn gehen. Denn da ist die Gewissheit, die er ihr gibt: “Ich komme wieder. Vielleicht brauche ich eine halbe Stunde, vielleicht anderthalb. Vielleicht komme ich auch mitten in der Nacht wieder. Aber sei versichert, ich komme wieder.”
An die Zeit, wo das noch nicht so war, erinnert sie sich schlechter als er. Vielleicht braucht Versöhnen ja Vergessen. Im Dezember 2019, fast drei Jahre nachdem Arne Susanne gewürgt hat, hatten sie ihr letztes Vierer-Gespräch. Er hat vor ein paar Tagen im Schrank ein kleines Buch entdeckt: “Aufzeichnungen eines Buchhändlers”. Sie haben zusammen darin gelesen.
Hinter der Geschichte:
Der Kontakt zum Paar kam über das Angebot des Frauenhauses Groß-Gerau zustande. Wir haben mit dem Paar mehrfach über mehrere Stunden gesprochen. Sie haben uns aus ihrer Beziehung berichtet, wie es vor und nach der Gewalt war. Wir haben Einblick in ihre Kommunikation, in ihr Paarsein bekommen. Außerdem hatten wir ein Gespräch mit den Therapeuten, von ihrer Arbeit, und vor allem von der Arbeit mit dem Paar im Speziellen erzählt haben. Die echten Namen sind uns bekannt.